HARTWIG am MITTWOCH: Das riskant-taktische Spiel mit kommunalen Finanzen

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HARTWIG am MITTWOCH ist eine Kolumne, die immer zuerst mittwochs in der Ostfriesland-Ausgabe der Nordwestzeitung und der Emder-Zeitung erscheint.

Die Botschaften der vergangenen Woche war eindeutig: Die Stadt Leer wird mit allen Tochterunternehmen bald 100 Mio. Euro Schulden haben. Der Investitionsstau liegt bei über 29 Mio. Euro und dafür müssten weitere 15 Mio. Euro Schulden aufgenommen werden. Diese Investitionen sind nicht finanzierbar und die gewünschten Projekte nicht umsetzbar. Kürzungen sind unumgänglich, vor allem auch bei freiwilligen Ausgaben. Und das, obwohl aufgrund erhöhter Gewerbesteuereinnahmen der Fehlbetrag im Ergebnishaushalt (Haushalt für den laufenden Betrieb) von 7,8 auf 5 Mio. Euro sinken wird. Soweit alles klar. Sollte man meinen. Es ist schließlich eine der letzten und in Summe eher düstere Info, die Leers abgewählte Bürgermeisterin, Beatrix Kuhl, unters Volk gebracht hat.

Stimmt das denn so? Ein Blick hinter die Kulissen gibt Aufschlüsse. Beispiel 1: die plakative Darstellung des Investitionsstaus. Korrekt ist: Hinter den 29 Mio. Euro stecken alle von den Fachbereichen grundsätzlich denkbaren Investitionsmöglichkeiten. Es handelt sich um das Aufsummieren aller Projekte – ohne, dass diese durch die Verwaltung gewichtet, über den Zeitpunkt (muss es wirklich 2022 sein?) und vor allem auch politisch darüber beraten und Prioritäten gesetzt wurden. Genau das wird jetzt die Aufgabe des neuen Rates sein. Dann wird sich zeigen, wieviel Geldaufnahme notwendig sein wird. Diese Hinweise fehlten in der Medieninfo.

Beispiel 2: die Gewerbesteuer. Das Plus an Einnahmen für die Stadt, das die Ex-Bürgermeisterin darstellte, erscheint erfreulich. Daraus den Rückschluss zu ziehen, dass sich für die Stadt wieder mehr Möglichkeiten ergeben, ist gefährlich. Jeder Steuerfachmann warnt vor zu schnellen Rückschlüssen anhand von Prognosen. Das gilt für alle Kommunen und keineswegs nur für Leer. Denn „Steuerprogosen“ sind durch Corona ein „gefährlicher Blick in die Glaskugel“, so ein Fachmann. Warum? Bei der Stadt Leer und anderenorts sind für 2019 und 2020 die so genannten Steuermessbescheide, die die tatsächliche Gewerbesteuer festlegen, bisher kaum eingegangen. Niemand weiß, wie es um die Situation der jeweiligen Unternehmen in 2021 tatsächlich steht. Bleibt es bei den Steuervorauszahlungen oder müssen bereits vereinnahmte Steuern sogar zurückgezahlt werden? Zumal die Unternehmen im Moment – wenn sie gut bei Kasse sind – lieber (zu viel) Steuern statt Strafzinsen für Geld auf dem Firmenkonto zahlen. Ansprüche beim Finanzamt sind krisensicher. Kurzum: Prognose bleibt nun einmal Prognose- und auch diese ergänzende Erläuterung fehlte in der Medieninfo und erzeugt ein falsches und riskantes Bild.

Als drittes Beispiel ist die drohende dreistellige Verschuldung genannt. Ja, die wird wohl bald kommen. Gut wäre gewesen, darauf hinzuweisen, dass diese Summe so ansteigt, weil die Unternehmen der Stadt in Werte investiert haben. Genannt sei der Neubau des Schwimmbads durch die eine Tochtergesellschaft bzw. Investitionen der Stadtwerke, die ihren bilanziellen Wert seit 2008 um 15 Mio. auf Mio. Euro auf 74 Mio. Euro gesteigert haben. Andere Kommunen konnten ihre Stadtwerke verkaufen und sich damit sanieren. In Leer ist das – und das ist gut so – kein Thema. Auch hier gilt: Nicht nur eine Zahl nennen, die sich plakativ gut macht. So eine Zahl erzeugt Ängste. Ängste sind keine gute Grundlage für das Gestalten einer guten Zukunft. Fazit: Es wurde bewusst ein oberflächliches, politisch-taktisches, und düsteres Bild durch Frau Kuhl kurz vor Ende der Amtszeit skizziert.

Und wie geht der neue Bürgermeister Claus-Peter Horst die finanziellen Themen an? Nachdem sein Ärger über die Vorgehensweise der Vorgängerin verflogen ist, will er sehr zeitnah einen Kassensturz machen. Schließlich fehlen seit Jahren geprüfte Jahresabschlüsse. Als nächstes sortiert er mit seinen Fachleuten die Projekte, die auf dem Zettel stehen, und spricht mit der Politik. So, wie das anderenorts auch üblich ist. Priorität wird bei den Ausgaben – das ist bereits im politischen Leer zu vernehmen – der Bereich Schule und Bildung haben. Ganz ohne frisches Geld von Banken für die baulichen Investitionen wird es wohl nicht gehen, das ist absehbar. Man darf schon jetzt gespannt sein, wie sachlich, fachlich und ehrlich der neue Verwaltungschef dann hoffentlich gemeinsam mit den Ratsfraktionen die Zahlenwerke für Investitionen und laufende Kosten in 2022 präsentiert.

Holger HartwigHARTWIG am MITTWOCH: Das riskant-taktische Spiel mit kommunalen Finanzen