Von Holger Hartwig*
Kennen Sie diesen Satz: „Das kann ich ja wohl noch besser beurteilen. Ich kenn mich schließlich selbst am allerbesten.“ Er fällt meist dann, wenn etwas am Verhalten oder an Aussagen über einen Menschen bei dem Umfeld auffallen oder gar nicht gefallen.
Aber stimmt das so? Kennt sich jeder Mensch selbst am besten? Oder ist diese Selbstkenntnis etwa nur die im eigenen Kopf kreierte Welt bzw. Wahrheit? Auf jeden Fall ist so eine Selbstwahrnehmung fragwürdig. Denn: Wir selbst kennen uns am allerwenigsten. Wir wissen nur, was sich bei uns im Kopf abspielt. Wir wissen nicht wirklich, wie wir nach außen wirken.
In einer Ausbildung hat es ein Coach kürzlich bildlich auf den Punkt gebracht: „Wir glauben, dass wir uns kennen. Dabei können wir das Bild von uns nur machen, wenn wir an uns herunterschauen. Unsere Rückseite kennen wir nicht und werden wir nie sehen. Auch unseren Gang, unsere Körperhaltung, werden wir nie selbst wahrnehmen können. Und wenn wir in unser Gesicht mit allen Facetten, die es ausstrahlt, sehen wollen, dann hilft nur der Blick in den Spiegel.“ Er ergänzte dann, dass nun mal jeder wisse, das ein Spiegelbild immer verzerrt…
Wie steht es also mit der Selbstkenntnis? Ihre Qualität hängt davon ab, wie jeder einzelne seine Fähigkeiten nutzt, die Reaktionen seines direkten und indirekten Umfeldes wahrzunehmen, zu reflektieren und einzuordnen. Diese Wahrnehmung fängt mit der Körpersprache an (Wie nehmen das andere wahr?) geht weiter über die Lautstärke, Geschwindigkeit der Sprache (Was macht das mit dem anderen?) und endet in der Fähigkeit, die Wirkung des eigenen Agierens auf die Mitmenschen lesen zu können. Das alles ist mitunter sehr komplex und fehleranfällig.
Einfach ist es, immer wieder den Mut zu haben, die Mitmenschen direkt anzusprechen: Wie nimmst Du mich wahr? Was fällt Dir an meinem Verhalten auf? Was strahle ich daus? Diese Fragen anderen direkt zu stellen, ist jedoch nicht selten eine große Herausforderung, denn sie ist mit der Angst verbunden, dass das Selbstbild, das mit großer Überzeugung, gerne und oft auch zum eigenen Schutz vor sich hergetragen wird, ins Wanken geraten könnte. Und dennoch lohnt es sich, genau diesen Abgleich zu machen, denn er ist die Chance, das Miteinander mit anderen besser gestalten zu können und mehr Zufriedenheit zu erreichen. Und diese Zufriedenheit wird dann – trotz aller Verzerrung – auch beim Blick in den Spiegel nicht zu übersehen sein.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.