Von Holger Hartwig*
„Im Moment nicht“. „Dafür habe ich zurzeit nicht den Kopf frei“. „Damit kann ich mit aktuell nicht beschäftigen, es ist so viel anders los“. Kennen Sie diese Sätze bzw. weiterer Varianten von Menschen aus Ihrem persönlichen Umfeld? Sie können für mehrere Botschaften stehen: überfordert sein, andere Prioritäten setzen, emotional ausgebrannt sein usw.
Vielen Menschen, die diese Sätze sagen, ist eine wichtige Unterscheidung nicht bewusst: Es ist sehr bedeutsam, darauf zu achten, in welchem Zusammenhang diese Botschaft „gesendet“ wird. Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob es sich um eine Aufgabe oder um eine zwischenmenschliche Frage handelt.
Warum? Aufgaben kann jeder aufschieben. Hier ist das Setzen von Prioritäten sinnvoll, denn in der Tat kann ein Mensch nicht alles gleichzeitig erledigen. Der Tag hat nur maximal 16 kreative Stunden und der Mensch nur einen Kopf und zwei Hände. Wer sich und seinen Alltag geregelt bekommen will, der muss zeitliche Aspekte einfließen lassen. Dinge einmal zurückzustellen und das dem Mitmenschen gegenüber deutlich zu benennen, ist sinnvoll und gut.
Ganz anders ist es bei dem Thema „Im Moment nicht“ und „Dafür habe ich nicht Kopf frei“ oder „Ich brauche Zeit für mich“ in Situationen des menschlichen Miteinanders. Denn anders, als bei dem Erledigen einer Sach-Aufgabe (z.B. das Bad kann auch nächste Woche geputzt werden), sind hier Gedanken und Emotionen im Spiel. Die beteiligten Menschen, denen gesagt wird „Im Moment nicht“, nehmen die Botschaft zur Kenntnis – und dann rattert die „Rübe“. Als erstes kommen die Gedanken: Was bedeutet das? Wie meint der/die das? Bin ich nicht mehr wichtig für ihn/sie? Warum nimmt der/die sich nicht einfach die Zeit?
In Phase 2 geht das Gehirn des Empfängers der Botschaft noch einen Schritt weiter: Die Analyse der Situation beginnt. Gedanken kommen, Gedanken gehen. Emotionen kommen, Emotionen gehen. Während der „Im Moment nicht“-Mensch sich mit den Themen, die er um sich hat, ablenkt und weiter durchs Leben geht, fängt der andere an, sich im Kreis zu drehen. Er sucht Antworten, warum er „im Moment“ nicht zum Zuge kommt. Er kann dabei aber im Prinzip nur spekulieren, was „Sache“ ist, weil der andere Beteiligte ja „keine Zeit“ für einen Austausch hat. Es besteht die Gefahr einer Spirale, die nach und nach Gedanken, Sorgen, Ängste verfestigt, die möglicherweise fernab der tatsächlichen Gründe sind. Vor allem bei Paaren kann diese „Spirale“ der Gedanken anstelle des Dialogs Folgen haben, die nicht wieder einzufangen sind.
Wenn es also um die Frage geht, ob sich ein Mensch einer Situation oder Aufgabe stellt oder zeitlich für sich verschiebt, dann ist es ganz wesentlich, darauf zu achten, ob es um eine Sache geht oder es einen anderen Menschen direkt betrifft. Wer „verschiebt“, wenn andere damit zu tun haben, der darf einen Moment in sich hineinfühlen und sich fragen, wie es ihm wohl gehen würde, wenn er auf der „Im Moment-Nicht“-Zeitschiene selbst nicht zum Zuge kommen würde.
Für die, die gerne über die Zeitschiene einem Dialog mit einem anderen Menschen ausweichen, kommt oft die große Überraschung, wenn es dann mit Verzögerung zum Gespräch kommt. Sie erfahren dann oftmals, dass der andere sich mit seinen Gedanken verselbständigt hat, viel mehr empfunden und hineininterpretiert hat, als überhaupt beabsichtigt war. Manchmal sind sie erschrocken, wie sehr dem anderen der fehlende Austausch zugesetzt und wieviel Kraft das Warten bis zur Klärung gekostet hat.
Die Erkenntnis „Das war so nicht gemeint“, „Das habe ich doch nicht gewusst, wie es Dir damit geht“ oder „Das wollte ich nicht, dass es Dir so zu Herzen geht und du so sehr leidest“ kann dann deutlich zu spät kommen. Zu spät, weil bei dem anderen Menschen etwas kaputt gegangen ist – etwas, was nicht wieder „ganz“ gemacht werden kann. Und dann hat das mit dem „Im Moment“ einen sehr hohen, oftmals viel zu hohen Preis.
Jeder, der im Miteinander einen Dialog mit anderen – es gibt wirklich oft auch gute Gründe dafür, das zu tun, weil wirklich viel um die Ohren oder einfach auch eigene Verunsicherung vorhanden ist – auf die lange Bank schiebt oder dem Gespräch mit der Begründung „im Moment“ ausweicht, sollte sich des möglichen Preises, dieses Sprengstoffes für alles, was doch immer so und damit so vertraut war, bewusst sein. Denn sonst kann das „Im Moment nicht“ bzw. keine Aufmerksamkeit zu einem sehr langen zeitlichen Moment werden, der mehr Wirkung hat auf die Zukunft, als es überhaupt vorstellbar war.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.