Öl Von Holger Hartwig*
Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor, die für Journalisten im vordigitalen Zeitalter durchaus denkbar war. Ein Unternehmen, dass lokal vor Ort sehr kulturell und gesellschaftlich engagiert ist, lädt zu seiner Jahrespressekonferenz ein. Die Firma mit einer respektablen Mitarbeiterzahl und entsprechenden Steuerzahlungen schaltet auch regelmäßig Anzeigen und hat für die Region wirtschaftspolitische Bedeutung. Kurzum: Das, was das traditionelle Familienunternehmen zu berichten hat, ist für viele redaktionelle Bereiche interessant.
So kommt es, wie es heute nicht mehr kommen würde: Bei dem Pressegespräch sitzen ein Redakteur der Lokalredaktion, ein Kulturredakteur, ein Experte aus der Wirtschaftsredaktion und ein Vertreter der PR-/Anzeigenredaktion und hören aufmerksam den Botschaften der Geschäftsführung und der Eigentümer zu. Alle Journalisten hören exakt die gleichen Worte – schließlich sind sie ja bei der identischen Veranstaltung.
Was meinen Sie? Werden die Berichte der vier Redakteur inhaltlich, in der Schwerpunktsetzung und sprachlich identisch sein? Wohl kaum. Jeder der zuhörenden Redakteure hört die gesagten Worte mit einem anderem inhaltlichen Schwerpunkt. Jeder der Redakteure wird – neben den Originalzitaten – seinen Text so schreiben, dass er seinem Schwerpunkt gerecht wird. Der Wirtschaftsredakteur wird ganz andere Akzente setzen als der PR-Redakteur, die skeptische Distanz zu den Aussagen des Unternehmens wird auch entsprechend unterschiedlich sein.
Warum ist das so? Jeder Mensch hat für jede Situation seinen ganz persönlichen „Sprachgenerator“ im Kopf. Dieser Sprachgenerator hat grundsätzlich Zugriff auf mehrere tausend Wörter des persönlichen Wortschatzes. Abhängig von der Aufgabenstellung, der Stimmungslage oder auch der persönlichen Grundhaltung zu einem Thema wählt er seine Worte, mit denen er „Sach“-Verhalte darstellt. Jeder Mensch geht dabei davon aus, dass er sich absolut sachlich und korrekt ausdrückt und die Fakten so wiedergibt, wie sie sind. Allerdings ist es bereits die situative und emotionale Vor-Programmierung im Kopf, die dem Sprachgenerator die Anweisung gibt, welche Worte ausgewählt werden sollen.
Wenn Sie also einen anderen Menschen mit seinen Worten besser verstehen wollen, dann kann es sinnvoll sein, sich die Frage zu stellen, wie der „Sprachgenerator“ beim Gegenüber gerade eingestellt ist und warum auf welcher Grundlage die aktuelle Wortwahl erfolgt. Daraus lassen sich dann die ersten Rückschlüsse ziehen, Konfrontationen vermeiden und es wird leichter sein, einen offenen Dialog zu führen. Schaden kann es zudem nicht, auch beim eigenen Sprachgenerator genauer hinzusehen. Sie werden auch bei sich sehr schnell feststellen, dass es manchmal einfach nur die Tagesform ist, die die Wortwahl des Generators „manipuliert“.
Manchmal ist es zudem sinnvoll, sich auch zu fragen, ob die verwendeten Wörter die gleiche Definition haben. Wenn zwei Menschen beispielsweise über Spinat sprechen, kann es sein, dass sie damit abgesehen von den sechs Buchstaben etwas völlig unterschiedliches verbinden (lesen Sie dazu auch „Leichter Leben – Die Spinatfalle“ – https://hartwig-am-sonntag.de/leichter-leben/die-spinatfalle/)
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.