HINWEIS: Liebe Leserinnen und Leser, bevor Sie den nachfolgenden Text lesen, bitte ich Sie zu beachten: Ich bin befangen. Ich bin seit 25 Jahren Eigentümer eines Hauses schräg gegenüber des Gebäudes, um das es im den Text weitgehend geht, und wohne – mit Unterbrechungen – in der Straße. Zudem bin ich von 2001 bis 2005 als Vorstandsreferent des Bauverein Leer eG direkt mit Themen der (sozialen) Wohnungsversorgung in der Stadt Leer in vielfältiger Hinsicht in Kontakt gekommen. Holger Hartwig
Der Tod eines Menschen bei einem Wohnungsbrand im Leeraner Westerende hat in den vergangenen Tagen in Leer für viel Gesprächsstoff gesorgt. Die Bewohner des Hauses, die bei dem Brand unversehrt blieben, haben in einem offenen Brief massive Vorwürfe erhoben. Viele Fragen stellen sich:
Was sind die Hintergründe zu dem Haus im Westerende? Wieso leben in Leer Menschen in Häusern, die von der Nachbarschaft nur als „Chaoten-Haus“ bezeichnet werden und in einem meist sehr ungepflegten Zustand sind? Was wird für Wohnungen dieser Art an Miete gezahlt? Steckt ein System dahinter? Wie hat die Stadt Leer reagiert?
Die Fakten der Polizeimeldung: In der Nacht zum Dienstag (21.06.) hat es im Haus Westerende 31 in Leer um 3 Uhr gebrannt. Nach bisherigen Erkenntnissen brach der Brand im rückwärtigen Gebäudebereich im Erdgeschoß aus und griff dann später auf andere Wohneinheiten über. Die Einsatzkräfte der Polizei konnten acht Bewohner aus verschiedenen Wohneinheiten antreffen. Da nicht geklärt war, ob Personen noch im Gebäude verblieben waren, wurde seitens der Feuerwehr eine Personensuche in der zuerst brandbetroffenen Wohnung durchgeführt, in deren Verlauf der 54-jährige Bewohner aufgefunden und geborgen wurde. Trotz umgehender Reanimationsmaßnahmen des Rettungsdienstes verstarb der Mann noch an der Einsatzörtlichkeit. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen und eine Aufnahme vor Ort durchgeführt. Die weiteren Ermittlungen und folgenden Spurensuchen werden durch Kräfte des Kriminalermittlungsdienstes durchgeführt und dauern an.“
Die Brandursache: Offiziell sagt die Polizei Leer derzeit noch nichts. Informationen sind für die kommenden Woche angekündigt. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Bei den Recherchen verdichteten sich die Hinweise, dass Brandbeschleuniger eingesetzt wurden und es in den Stunden vor dem Brand zu Diskussionen zwischen dem Mieter der Wohnung und anderen gekommen ist.
Der Tote: Bei dem Brand ist Günther H. ums Leben gekommen. Er hatte zum Zeitpunkt des Unglücks nach Darstellung der Mitbewohner an den Folgen einer Kopfverletzung zu leiden und wurde – wie es die Bewohner schildern – bei dem Brand in der Badewanne mit einem Tuch über dem Kopf gefunden.
Die ausgebrannte Wohnung: Nach Darstellung der Bewohner des Hauses wurde sie durch den Bewohner immer durch ein Fenster betreten, weil sich die Tür nicht habe öffnen lassen (der Mieter hatte wohl den Schlüssel verloren). Ein Fenster der Wohnung war seit Wochen mit einem Brett zugenagelt, so dass der Zutritt durch das eine verbliebene Fenster erfolgte.
Die Mietverträge: Mit elf Mietparteien – acht im EG, drei im OG – sind offenbar Verträge auf Basis des „Wohnungs-Einheitsmietvertrages“ geschlossen. Aus einem geht hervor, dass beispielsweise eine Wohnung mit insgesamt 30 Quadratmetern (1 Zimmer, 1 Küche, 1 Korridor und Bodenraum) vermietet wurde. Die Größe der Wohnung, die im Vertrag steht, entspricht jedoch nicht der tatsächlichen Wohnungsgröße. Überprüft hat das laut Aussage von Mieter nie jemand von der zuständigen Behörde, die die Mietkosten trägt. Der Preis für diese Wohnung inklusive der Kosten für Wasser, sonstige Abgaben und Heizung: knapp über 320 Euro monatlich. An besonderen Festlegungen steht darin: „Der Mieter ist verpflichtet, vor dem Haus zu fegen und im Winter zu fegen und zu streuen. Das Unkraut auf dem Weg ist regelmäßig zu beseitigen.“ Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um einen Mieterkreis handelt, der sein Leben als solches nur schwer geregelt bekommt. Die Realität: Natürlich wächst das Unkraut in die Höhe und Winterdienst wird nicht gemacht. Eine Kontrolle, ob der Winterdienst jemals gemacht wurde, wird seitens der Behörden nicht vorgenommen. Der für die Wohnungen im Westerende bestehende Mietvertrag ist kein Einzelfall. Bei den Wohnungen, die von der Kommune für diesen „Kundenkreis“ bezahlt werden, wird – so ein Insider – nicht so genau hingesehen, „denn wir sind ja froh, dass wir für diese Menschen überhaupt eine Bleibe finden.“
Die Vermieter: Der Vermieter des Hauses Westerende kennt sich bestens aus. In den 1990er Jahren war er Samtgemeindedirektor einer Kommune im Kreis Leer. Aus dieser Zeit ist ihm bestens bekannt, wie man mit einer Immobilie und der Vermietung an Sozialschwache gut zurecht kommt. Auch er ist kein Einzelfall. So wie in Leer haben sich landauf landab Eigentümer darauf spezialisiert, aus ihren Immobilien, die in einem entsprechend baulichen Zustand, das Maximale an Mieteinnahmen herauszuholen. Wirtschaftlich lassen sich mit diesen Objekten – so gab ein Eigentümer einer anderen Immobilie offen zu – „ganz gut große Brötchen backen.“ Geprüft werden die Umstände in den Objekten nur selten, denn – Zitat aus einer zuständigen Behörde – „Wir sind ja froh, dass wir eine Bleibe gefunden haben, denn in einem Mehrparteienhaus, in dem auch andere Familien leben, will die ja keiner haben“.
Die zuständigen Behörden: Für das Haus Westerende 31 gilt – wie auch bei anderen Objekten und in anderen Kommunen, wie Hintergrundgespräche anderenorts zeigten – seit Jahren das Motto „Solange nichts passiert, lieber wegschauen“. Vor 20 Jahren hat der Autor dieser Zeilen erstmals bei der Leeraner Stadtverwaltung angefragt und darum gebeten, dass die Unterkünfte und vor allem deren Wohnqualität regelmäßig angesehen werden. Und was war die inoffizielle Antwort: „Wir wissen das wohl. Aber was sollen wir denn da machen. Wir sind doch froh, dass wir für diese Menschen überhaupt eine Wohnung gefunden haben. Wo sollen wir die denn sonst unterbringen?“ Auf den Nachsatz, dass die Mieten für die Wohnungen wohl angesichts von Größe und Ausstattung deutlich zu hoch seien, hieß es: „Das ist bekannt. Die Kosten werden aber übernommen.“ Und es sei durchaus bekannt, dass das ein lukratives Geschäftsmodell sei. Auch in anderen Fällen während der Zeit bei der Wohnungsgenossenschaft war es ähnlich, das weggeschaut wurde, so lange es geht und so lange nichts passiert. So meldete sich ein älteres Ehepaar – es hätten die Großeltern sein können –, dass der vierjährige Junge aus der Nachbarwohnung immer wieder nachts zwischen 2 und 4 Uhr bei ihnen heulend vor der Tür sitze bzw. klingele. „Mama ist nicht nach Hause kommen“, „Mama reagiert nicht“, habe er ihnen gesagt. Die Mutter hatte ein Suchtproblem und vieles mehr. Auch hier war es nicht so, dass den zuständigen Mitarbeitern der Behörden ein Vorwurf gemacht werden sollte: Sie haben vieles versucht, um dem kleinen Jungen zu helfen. Aber auch hier hörte ich viele Monate „solange nichts passiert“. Irgendwann war das Maß dann voll und der kleine Junge konnte – was zu bedauern ist – in eine Pflegefamilie. Auf weitere Beispiele verzichte ich an dieser Stelle.
Der offene Brief: Am Donnerstag wandten sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses an die Medien und die Behörden und informierten die Nachbarn über ihren Schritt. Der offene Brief hat den Titel „Das war ein Verbrechen – ein Mensch ist gestorben!“ (lesen Sie hier den offener Brief der Bewohner im Original-Wortlaut). Darin haben sie massive Vorwürfe gegen die Einsatzkräfte („gewaltsamer Umgang mit den Bewohnern“; „es wurde über die Bewohner rumgeflachst“; „ganz gemütlich wurde der Löschschlauch über die Straße spaziert“) geäußert und schreiben davon, dass es sich „bei den Bewohnern nicht um irgendwelche Monster handelt, sondern man könnte eher von gescheiterten Existenzen sprechen“. Die Bewohner kritisieren auch den Vermieter massiv. Zitat: „Der Vermieter/Eigentümer kassiert ab und nutzt das soziale System, um sich auf Kosten anderer zu bereichern“. Fluchtwege im Haus seien versperrt, da kaputte Fenster nicht ordnungsgemäß ausgetauscht, sondern mit Schrauben festgeschraubt worden seien. Sie schreiben weiter, dass sie „fair behandelt werden und nicht noch diffamiert werden wollen, während die eigene Existenz in Gefahr ist.“ Es müsse adäquater Wohnraum gestellt werden, so das Fazit.
Die Reaktion auf den offenen Brief: Am Freitag – also bereits am nächsten Tag – waren die Bürgermeisterin der Stadt Leer, Beatrix Kuhl, Vertreter des Bauamts, des Ordnungsamtes, der Rettungskräfte und der Polizei gemeinsam mit dem Vermieter des Hauses Westerende vor Ort. Kuhl sagte auf Anfrage: „Wir haben uns vor Ort ein Bild gemacht wegen der Vorwürfe der Baufälligkeit des Gebäudes und den Brandfolgen gemacht.“ Im Ergebnis habe das städtische Bauamt die Nutzung von drei Wohnungen wegen der Brandfolgen untersagt und die Bewohner würden Ersatzwohnungen erhalten. Ansonsten sei keine Baufälligkeit festgestellt worden. Kuhl machte deutlich, dass es aber auch so sei, dass die Bewohner ihrerseits sowohl in der Brandnacht als auch am Freitag in ihren Wohnungen verbleiben wollten. Sie erklärte, dass sie, sobald sie von Problemen bei Wohnungen höre, die von der Stadt Leer bezahlt werden, „sofort reagiert“. Das, so sagte sie, gelte auch für ihre Mitarbeiter. „Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann muss es abgestellt werden“, so Kuhl. Regelmäßige Kontrollen sollten dann erfolgen. „Wir gehen da klare Kante“, so Kuhl. Bei dem Termin vor Ort sei deutlich geworden, „dass sich der Vermieter durchaus um das Objekt kümmert“. Es sei angekündigt, dass ab Montag Handwerker in dem Haus tätig werden.
Die Situation in der Stadt Leer: Offiziell sagt es niemand, aber es gibt im gesamten Stadtgebiet Leer – wie auch in den meisten Nachbarstädten – vielfach „Schrottimmobilien“, die mit schwierigen Mietern durch die Behörden „belegt“ werden. Dabei sind es oft dieselben Vermieter, die es verstehen, mit ihrem „Konzept“ der Vermietung an die kritischen „Mieterkreise“ gutes Geld zu verdienen. Für die Behörden sind diese Vermieter oft ein „Problemlöser“, da sie für Menschen Unterkünfte bieten, die ansonsten in keiner Nachbarschaft oder in einem Mehrfamilienhaus dauerhaft wohnfähig werden. Insofern wird dann auch gerne „über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort“ hinweggesehen.
Fazit: Bürgermeisterin Kuhl hat nach den Vorkommnissen in den vergangenen Tagen zugesagt, dass für sie und ihre Mitarbeitenden ein „Wegsehen“ nicht in Frage kommt. Was das Hinsehen vor Ort (und sicherlich auch in die Verträge) bedeutet, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. HH