Ab dem morgigen Montag im Amt: Leers neuer Bürgermeister Claus-Peter Horst im Interview
LEER Gut sechs Wochen nach seiner Wahl wird Claus-Peter Horst am morgigen Montag erstmals auf dem Chefsessel im Leeraner Rathaus sitzen. Der Parteilose bisherige Chef der Stadtwerke Leer tritt die Nachfolge von Beatrix Kuhl an (CDU). Im Gespräch kündigt er an, bis Ende Januar 2022 eine umfassende Bestandsaufnahme unter anderem mit einem Kassensturz für die städtischen Finanzen vornehmen zu wollen. Sein Ziel: Gemeinsam mit dem neuen Stadtrat einen Entwicklungsplan 2030 für die Ledastadt aufzustellen und zu beschließen.
Herr Horst, erst Stadtplaner, dann Vorstand der Stadtwerke und nun Bürgermeister – ein grader Weg an die Spitze. Wie fühlt es sich seit dem Wahlerfolg im September an, den Chefsessel im Rathaus zu besteigen?
Horst: Es fühlt sich sehr gut an. Ich hatte einen Wahlerfolg im ersten Wahlgang, wie ich ihn nicht erwartet habe. Ich bin sehr dankbar, dass so viele Leeranerinnen und Leeraner mir ihre Stimme gegeben haben und mir den Job auch zutrauen.
Ist es für Sie ein Job oder eine Berufung?
Ich habe in den Monaten vor dem eigentlichen Wahlkampf sehr lange darüber nachgedacht, ob ich die Aufgabe des Bürgermeisters schaffen kann und ob ich mir dieses Amt zutraue. Es ist für mich eine Berufung und steht am Ende einer persönlichen Entwicklung, für die ich mich über viele Jahre qualifiziert habe.
Was wird aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung?
Es gibt derzeit im Rathaus keinen Stadtbaurat. Der Erste Stadtrat ist längere Zeit erkrankt. Ich komme also in ein Rathaus, das derzeit keine Führungsstruktur hat und werde somit die erste Zeit allein im Amt ohne Vertretung sein. Ich weiß, dass ich auf eine kollegiale Unterstützung der Mitarbeitenden im Rathaus zählen kann, aber dennoch fehlen in der ersten Zeit die beiden Führungspersönlichkeiten an meiner Seite.
Was macht aus Ihrer Sicht einen guten Rathauschef aus?
Ich möchte mit allen gut klarkommen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich als Bürgermeister auch einmal klare Kante zeigen muss. Das kann ich auch. Ich werde den Dialog, die Verständigung und den ehrlichen Umgang suchen und dann bin ich auch bereit, meine breiten Schultern, die ich als Bürgermeister haben muss, jedem zur Verfügung zu stellen und mich bei Problemen vor die Kolleginnen und Kollegen zu stellen.
Auf welche Ihrer Charaktereigenschaften wird es am meisten ankommen?
Ich setze auf Ehrlichkeit und das Gespräch. Mir ist es ganz wichtig, dass wir die Probleme und Themen mit unterschiedlichen Meinungen jeweils vollständig analysieren. Dabei muss man dann auch alles auf den Tisch packen und wir arbeiten dann an passenden Kompromissen. Ich kommuniziere, was ich denke und – sollte es mal dazu kommen – vergesse einen Streit sehr schnell.
Gibt es Bereiche, vor denen Sie besonderen Respekt haben und in denen Sie noch lernen dürfen?
Ich habe einen großen Respekt vor dem Haushalt und den Investitionsbedürfnissen der Stadt. Als Vorstand der Stadtwerke war ich natürlich auch für die Finanzen zuständig, aber das Volumen ist kleiner als das der Stadt und ich hatte oft die alleinige Entscheidungsgewalt. Da muss ich dazulernen, denn es wird nicht einfach werden, die politischen Anforderungen und die Wünsche der Bürger immer unter einen Hut zu bekommen.
Gibt es eine Aufgabe, auf die Sie sich besonders freuen?
Ja, ich freue mich, steuern zu dürfen. Ich habe jahrelang ein Tochterunternehmen der Stadt gesteuert und manchmal – das gebe ich zu – auch etwas neidisch auf die komplexeren Aufgaben einer Stadt herübergeschaut.
Gibt es etwas, was Sie von Ihrer Vorgängerin Beatrix Kuhl übernehmen werden?
Ich habe an ihr immer geschätzt, dass sie einen sehr innigen Draht zu den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt mit einem offenen Ohr hatte. Das würde ich gerne übernehmen. Ich wirke vielleicht nicht immer so bürgernah und zuhörend, aber ich habe im Wahlkampf gelernt, dass es sehr wichtig ist, die Bedürfnisse der LeeranerInnen intensiv kennenzulernen. Das möchte ich gerne beibehalten.
Sie haben die Inhalte und Gedanken, die Sie im Wahlkampf digital präsentiert haben, aus dem Netz genommen. Statt Inhalten steht unter www.leer-kann-mehr.de jetzt ein Dankeschön. Was ist der Grund dafür? Haben Sie Angst, dass die Bürger digital immer wieder nachsehen könnten, was aus Ihren Ankündigungen wird?
Diese Änderung habe ich mir sehr wohl überlegt. Die Informationen sind nicht gelöscht, die Inhalte liegen, bildlich gesprochen, hinter der Dankesfolie und können jederzeit wieder dargestellt werden. Aber: Für mich ist der Wahlkampf nicht gleichzusetzen mit der Phase, die jetzt kommt. Ich gehe jetzt ins Rathaus, kann erstmals genau in die Akten schauen und bin dann auch bereit, meine Positionen zu modifizieren, ohne sie allerdings in den Grundzügen zu ändern. Ich kann heute versprechen: Wir machen die Seite nach einer gewissen Zeit wieder auf und dann schauen wir, was erfüllt werden konnte und was nicht. Ich werde dann gerne auch transparent erklären, warum Dinge vielleicht nicht passiert sind.
Woran werden die Bürgerinnen und Bürger der Stadt als erstes bald merken, dass aus Ihrem Wahlslogan „Leer kann mehr“ Realität wird?
Das ist schwer zu beantworten, weil ich noch nicht abschätzen kann, welches Projekt an erster Stelle kommen wird. Ich habe versprochen, dass wir alle Projekte einzeln auf den Tisch holen und mit breiter Öffentlichkeit diskutieren. Dann werde ich versuchen, mit der Politik einen Plan für Leer 2030 bis 2035 zu erstellen und dabei die notwendige Einbeziehung der Leeranerinnen und Leeraner sehr ernst nehmen. Ich sage es mal so: Es gibt vielleicht kein konkretes Merken, sondern eher ein aufmerksames Beteiligt sein mit „Wo wollen wir hin“ und „Wie können wir etwas gemeinsam schaffen“. Es ist also ein Prozess, den man merkt.
Was wird Ihre erste Aktivität sein, um die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft oder andere Gruppierungen stärker in die Entwicklung der Stadt einzubeziehen?
Da habe ich sehr viele Ideen. Das kann die einfache Bürgerbeteiligung sein oder auch „Bürgermeister vor Ort“. Ich bin gespannt, was angesichts der Corona-Zahlen möglich ist. Das muss man abwarten und ggf. gibt es auch digitale Formen der Beteiligung.
Der Rat der Stadt Leer wird neue politische Verhältnisse haben. Ihre Unterstützer, SPD und Grüne, haben die Mehrheit. Wie werden Sie die Arbeit mit dem neuen Stadtrat angehen? Sind in dieser Hinsicht neue Akzente zu erwarten?
Ja, das werde ich tun. In den vergangenen Wochen habe ich von den Parteien mitgeteilt bekommen, welche Schwerpunkte sie für die kommende Zeit setzen. Die sind zwangsläufig nicht immer identisch mit meinen Ansichten und – wen wundert es – auch nicht immer konform untereinander. Es wird meine Aufgabe und die der Verwaltung sein, diese Ansprüche zu sammeln, dann zu sortieren und abschließend für einen Entwicklungsplan 2030 zusammenzustellen.
Es ist nachvollziehbar, dass Sie mit Beginn der Tätigkeit noch keinen vollständigen Überblick über die Herausforderungen haben können. Eine umfassende Bestandsaufnahme braucht Zeit. Wieviel Zeit geben Sie sich?
Mein Ziel ist, nach drei Monaten Ende Januar einen Überblick in der Tiefe zu haben.
Nachfolgend einige Stichworte mit der Bitte zu beschreiben, was Sie mit Blick für Erwartungen haben:
Finanzen/Haushaltslage: Es gibt seit 2016 keine Jahresabschlüsse mehr, die interpretiert werden können. Ich bin angetreten mit der klaren Botschaft, als erstes einen Kassensturz zu machen, der hoffentlich positiver ausfällt als erwartet. Ich hoffe, dass ich so schnell wie möglich eine Liste der Salden der einzelnen Haushaltsbereiche bekomme, denn ich muss wissen, was noch gebucht werden muss.
Bauamt: Ein Riesenproblem. Viele Bauanträge werden derzeit nicht mit der erforderlichen Geschwindigkeit bearbeitet oder mit Hemmnissen versehen, die die Bauherren nicht verstehen. Da werde ich versuchen, die Abläufe aufzuarbeiten und wenn nötig zu optimieren. Wir benötigen in diesem Bereich viel Personal und mehr Tempo. Neben den Finanzen ist das eines der wichtigsten Themen.
Gewerbeflächen: Da habe ich Ideen und sehe Optionen, die über das aktuelle Projekt Benzstraße hinausgehen. Es sind dort noch Fragen mit Investoren oder Grundstückseigentümern zu klären. Darum kümmere ich mich ab dem Tag der Amtsübernahme, denn die Verhandlerrolle kann ich erst annehmen, wenn ich Bürgermeister bin. Gewerbeentwicklung bleibt Chefsache.
Wohnraum: Wir haben in Leer keine generelle Wohnungsknappheit, aber von gewissen sozialen Gruppen wird Wohnraum nachgefragt, der nicht vorhanden ist. Bekannt ist, dass es viel Bauwillige für zentrale Lagen gibt, die nicht mit dem Bau anfangen können. Das steht für mich im Zusammenhang mit der Situation im Bauamt und im Bauordnungsamt. Wenn es gelingt, da Tempo aufzunehmen, dann haben wir viel geschafft.
Innenstadt: Ich bin sehr froh, dass die Innenstadt in Leer auch nach Corona sehr belebt ist. Wir sind Einkaufsstadt Nummer 1 und müssen alles tun, um das zu bleiben. Sorge habe ich ein wenig bei dem Tempo, das bei dem Förderprojekt „Zurück in die Innenstadt“ vorgegeben wird. Das sind nur wenige Wochen, bis die Projekte planreif sein müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob man das alles verbaut und umgesetzt bekommt. Ich will versuchen, mit der Verwaltung das Beste herauszuholen.
Noch eine persönliche Fragen: Bürgermeister sind Sie nicht nur im Rathaus, sondern auf jedem Schritt und Tritt in der Stadt. Was ist Ihre Idee, für sich und damit auch Ihre Familie Freiräume zum Kraft tanken zu erhalten?
Die Rolle in der Öffentlichkeit kenne ich als Vorstand, wenngleich nicht in der Intensität, wie ich es schon jetzt nach gewonnener Wahl erlebe. Das Interesse ist wahnsinnig groß, ich werde fast überall – sei es auch an der Kasse im Supermarkt – angesprochen. Aber: Wie jeder andere brauche auch ich Freiräume. Wie in den vergangenen Jahren möchte ich gerne mit dem Wohnwagen wegfahren an Orte, wo mich keiner kennt und ich wie jeder andere auch in der Badehose oder im Jogginganzug vor dem Wohnwagen sitzen kann. Das lieben wir und ich bin immer verärgert, wenn dann doch jemand herausbekommt, welche öffentliche Rolle ich habe. Dieses positive „Weglaufen“ aus Leer werde ich mir erhalten. Das Handy lasse ich allerdings an, denn dann kann ich immer handeln, wenn es notwendig ist. Meine Mitarbeitenden wissen immer, dass sie mich nur dann anrufen, wenn es wirklich brennt. Ich bin durchaus froh, wenn es einige Tage nicht klingelt.
Sie kennen es: Nach 100 Tagen wird die erste Bilanz gezogen, nach einem Jahr noch einmal und dann meist zum Ende einer Amtszeit nach fünf Jahren. Sie dürfen nun wählen: Welche Schlagzeile möchten Sie gerne zu welchem Zeitpunkt über Ihre Arbeit als Stadtoberhaupt lesen?
Ich nehme die Schlagzeile am Ende der Amtszeit. Fünf Jahre sind kurz. Ich wünsche mir, dass die Schlagzeile lautet: Fraktionen des Stadtrates stellen keinen Gegenkandidaten zu Claus-Peter Horst auf.