Es ist über 33 Jahre her, doch ich erinnere mich bis heute an das Ende des ersten Tages meines Redaktionspraktikums beim General-Anzeiger in Rhauderfehn sehr gut. Den gesamten Tag hat mich der damalige Chef vom Dienst, Hans Walz, an der Qualität von Überschriften feilen lassen. Immer wenn ich dachte, nun „passt“ es, hatte er für mich noch wieder einen Hinweis und lies mich weiter „knobeln“, bis die Vielfalt, die Buchstabenzahl und vieles mehr seinen Vorstellungen entsprach.
Gegen 18 Uhr gehe ich dann das letzte Mal in sein Büro. Und was macht dieser Mann? Er sagt ganz trocken zu mir: „Herr Hartwig, morgen brauchen Sie nicht wieder zu kommen!“. Bumms, das sitzt aber richtig tief in der Magengrube. Einen Moment bin ich sprachlos, dann traue ich mich zu fragen, was ich denn so falsch gemacht habe, dass ich nicht wiederkommen soll. Das Ende eines Praktikums nach nur einem Tag wäre ja – so denke ich – auch gleichbedeutend mit dem Ende aller journalistischen Ambitionen. Herr Walz, der von seinem Schreibtisch alles managt, schaut mich an und antwortet: „Herr Hartwig, morgen kommen Sie nicht. Morgen bleiben Sie den ganzen Tag in Leer. Und übermorgen sehen wir uns wieder.“
Ich schaue ihn etwas ungläubig und frage ihn: „Ist denn morgen ein Termin in Leer? Worüber soll ich denn berichten? Was soll ich den ganzen Tag machen?“ Er schaut mich etwas verschmitzt an: „Nein, Sie haben keinen Termin morgen. Sie können den Tag morgen so gestalten, wie Sie es möchten. Und übermorgen kommen Sie dann morgens gleich zu mir ins Büro und berichten mir, was Sie erlebt haben und dann schauen wir mal, was dabei journalistisch herauskommt.“ Puuh, das ist mal eine Ansage. Kein Termin und schauen, was dabei journalistisch herauskommt. Was mag das wohl werden?
Schon auf dem Weg nach Hause in meinem grünen VW Käfer geht mir alles Mögliche durch den Kopf. Wo finde ich in Leer eine schöne Geschichte ohne einen Termin zu haben? Was bietet sich an? Mal bei der Stadt Leer nachfragen? Aber mit was für einer Idee? Auch die Nacht wird nicht eine derjenigen, die ruhig und erholsam ist. Irgendwie nagt der Gedanke an mir, dass ich die Erwartungen, die nicht genau beschrieben sind, nicht erfüllen könnte.
Am nächsten Morgen treffe ich die erste Entscheidung: Augen zu und durch – nein besser gesagt: Augen auf und los! Ich entscheide mich, zunächst mit dem Käfer kreuz und quer durch die Stadt zu fahren und nach Kuriositäten, Besonderheiten oder auch Baustellen Ausschau zu halten. Alles, was mir auffällt, fotografiere ich und mache mir Notizen. Abends sind es dann – heute kann sich das kaum noch einer vorstellen – vier Filmrollen mit je 36 Motiven, die ich „vollfotografiert“ habe. So sehe ich beispielsweise, dass es in der Stadt Kästen mit offiziellen Bekanntmachungen der Stadt gibt, die zum letzten Mal von drei Jahren mit Neuigkeiten versehen wurden. Nach der Rundtour mit dem Auto geht es zu Fuß weiter. Auch dabei warten viele Fotomotive. Eines bleibt mir bis heute in Erinnerung: der Schriftzug mit Werbung für den Ratskeller am historischen Leeraner Rathaus. Weiße Leuchtreklame mit Bierlogo und modernem Schriftzug. Das sieht einfach fürchterlich aus. Größer könnte ein Stilbruch an einem so imposanten Gebäude nicht sein. Das Foto mit entsprechendem Text wird gedruckt – und einige Zeit später ist diese grausame Leuchtreklame durch eine stilechte Werbung ersetzt. Bis heute.
Neben den vielen Fotos brauche ich auch Geschichten. Also geht es durch die Fußgängerzone. Und ich habe Glück. Auf einer Bank sitzt ein junger Wandersmann mit Hund und Fahrrad. Der wird bestimmt etwas zu erzählen haben. Ja, das hatte er. Vor allem schilderte er neben seinen alltäglichen Herausforderungen, wie er Leer und die Menschen empfindet und wie angenehm es in der Stadt ist. Diese Geschichte und zwei weitere werden schöne Mehrspalter.
Der Tag wird ein langer Arbeitstag. Ab 17 Uhr bin ich wieder zuhause und sitze vor meinem Rechner. Alles, was eingesammelt wurde, muss zu Papier gebracht werden. Irgendwann falle ich müde ins Bett – 13 Solo-Bilder (das sind die Fotos mit einer Beschreibung und ohne Text) und drei Mehrspalter sind fertig. Mit gutem Gefühl geht es ins Bett.
Am nächsten Morgen bin ich dann wieder in Rhauderfehn. Ich lege Herrn Walz meine Ausbeute auf den Tisch. Er sagt nicht viel, er ist wohl zufrieden. Auf jeden Fall darf ich wieder kommen an den nächsten Tagen und Stück für Stück dazulernen.
Ach ja, der Tag ohne Termin in Leer ist am Ende ein doppelter Gewinn: Es ist der Tag, für den es am Ende am meisten Honorar für Fotos und Zeilen während des gesamten Praktikums gibt. Es ist der Tag mit einer Erfahrung, die später viele meiner Praktikanten und Auszubildenden machen. Wenn die jungen Kolleginnen und Kollegen nämlich mit ihrer Ausbeute zurückkommen, weiß ich schon recht gut, wie aufmerk- und wachsam sie durch die Weltgeschichte gehen. Die, die viele Storys mitbringen, sind die, die am Ende auch mit ihrem Gespür die nächsten Jahre für interessante Themen sorgen.
Symbolfoto: Skitterphoto /pexels.com