Das Sonntagsthema: Der Immobilienboom und die millionenschwere Fehlentscheidung in Leer

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Das Musterhaus, dass der Gutachterausschuss für Ostfriesland für die Stadt Leer in seinem Marktbericht für das Jahr 2021 ausgewählt hat, bringt es auf den Punkt: 700 Quadratmeter großes Grundstück, 140 Quadratmeter Wohnfläche, mittlere Lage. Kosten 2021: 440.000 Euro. Das gleiche Objekt ein Jahr zuvor: 310.000 Euro. Macht eine Wertsteigerung in einem Jahr von satten 41,9 Prozent. Wer es sich leisten kann, für den ist „Betongold“ die sicherste Geldanlage in Zeiten steigender Inflation.

Insgesamt haben die Grundstücks- und Immobilienexperten für Ostfriesland einen Wertzuwachs bei den Ein- und Zweifamilienhäuern – sie sind in der Region bekanntermaßen der „Liebling“ der Menschen – von etwa 20 Prozent ermittelt. Damit haben sich die Preise nach Darstellung der Experten in den vergangenen acht Jahren verdoppelt. In allen anderen Kategorien von Immobilien und Grundstücken ist die Preisexplosion nicht ganz so heftig, aber auch signifikant. Selbst bei Grundstücken, die in der Region schon absolut hochpreisig sind, sind die Bodenrichtwerte noch einmal angestiegen. Die Toplagen in Leer für den Handel stiegen von 900 auf 950 Euro (Mühlenstraße), für Wohnbebauung auf der Nesse beispielsweise von 500 auf 550 Euro je Quadratmeter.

Die Gründe für die Preisexplosionen sind vielfältig. Auf der Hand liegen die bundesweit geltenden Faktoren: die Attraktivität durch niedrige Zinsen für Geldanlagen einerseits und niedrige Kosten für Baukredite andererseits. Die Nachfrage ist dadurch seit Jahren größer als das Angebot. Auch steigende Baukosten – statistisch ist von 9 Prozent in 2021 die Rede – tragen ihren Teil zu der Entwicklung bei. Der Anstieg von 20 Prozent im vergangenen Jahr ist trotzdem außergewöhnlich. Er könnte durch die Veränderungen der Regelungen zur Maklercourtage Ende Dezember 2020  begründet sein. Der Gesetzgeber hat die Verteilung der Vermittlungsgebühr neu gefasst. Bis dahin zahlten die Käufer direkt an den Makler alles, heute muss auch der Käufer in sein Portemonnaie greifen. Vielerorts führt das dazu, dass der Verkäufer den Makler komplett „übernimmt“ und die klare Ansage macht, dass diese Kosten über einen erhöhten Verkaufspreis „refinanziert“ werden müssen. Die Nachfrage macht´s möglich.

Wird die Kostensteigerung in Ostriesland bald ein Ende erreichen? Klare Antwort: Nein. Warum? Das Preisniveau in Ostfriesland liegt trotz der hohen Steigerungen in den alten Bundesländern immer noch am unteren Ende. Wer irgendwo kurz vor der Rente steht und den Traum vom Eigenheim hat, der weiß: Im hohen Norden lässt er sich realisieren. Und dann spielt Maklern und Verkäufern das Internet in die Karten. Vor Jahren war die Nachfrage auf die Region begrenzt. Heute sorgt statt der Zeitungsanzeige das Netz dafür, dass Interessenten von sonst wo her „Schlange stehen“. Das machen sich die Makler zunutze. Trotz großer Nachfrage wird nicht mehr auf das schnelle Geschäft gesetzt, sondern ein maximaler Verkaufspreis – gerne auch über Bieterverfahren – „erarbeitet“. Das wird so bleiben und der Zuzug – auch aus den Niederlanden – wird aufgrund der „niedrigen“ ostfriesischen Preie weiter zunehmen. Kurzum: Bauen oder Kaufen wird noch viel teurer werden.

Besonders bitter ist die Entwicklung der Preise für Boden und Immobilien für die Stadt Leer. Dort hat im Rathaus die Politik Mitte der 1990er Jahre eine millionenschwere Fehlentscheidung getroffen, die bis heute nicht korrigiert wurde. Damals waren die städtischen Kassen – wie heute auch – leer. Die Politik kaufte zwar das Erbpachtrecht für die Nesse zurück, aber ebenso wie auf dem Filetstück entschied man sich, die Erschließung von Baugrund nicht mehr selbst zu machen. Die Sparkasse, weitere Banken, landesweit agierende Erschließungsträger sowie größere Bauunternehmern wurden zu Entwicklern. Die verdienen seitdem das Geld mit der Stadtentwicklung, wenn es um Baugrund geht. Und mit dem Geschäft der kommunalen Baulandentwicklung ist viel Geld zu verdienen. Papenburg hat es vorgemacht. Dort stampfte man über viele Jahre das „Kapitänsviertel“ aus dem Boden. Etwa 1000 Grundstücke wurden verkauft. Zu Beginn eines jeden Jahres skizzierte der Kämmerer – und das macht nicht nur er so – ein höheres zu erwartendes Minus im Haushalt, um am Jahresende dank des Plus aus den Grundstücksverkäufen besser da zu stehen.

Der neue Leeraner Bürgermeister Claus-Peter Horst hat im Wahlkampf und danach angekündigt, dass die Stadt wieder selbst erschließen soll. Es ist zu hoffen, dass die Politik ihm folgt und nach fast 30 Jahren wieder der starke „Stadtentwickler“ wird. Einfach wird das nicht. Es müssen im Rathaus dafür wieder Strukturen geschaffen werden – eine Aufgabe für den neuen Baurat. Es müssen potenzielle Flächen erkannt und beplant werden – da gibt es nicht mehr so viele. Eines ist aber wohl sicher: Es wird sich lohnen – denn die geburtenstarken Jahrgänge, die bald bundesweit in Rente gehen, werden weiter für Nachfrage und Zuzug sorgen.

 

Holger HartwigDas Sonntagsthema: Der Immobilienboom und die millionenschwere Fehlentscheidung in Leer