Jahreswechsel 1994/1995. Nach vier wilden Jahren mache ich wieder Zeitung in der Leeraner Heimat. Bereits seit vielen Monaten ist der Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt in den Medien. Ein Notvorstand ist eingesetzt, weil die Finanzen – ich drücke es mal vorsichtig aus – nicht in Ordnung sind. Von Schulden wird geschrieben, von finanziellen Schwierigkeiten. Irgendwie lässt mir das Thema keine Ruhe, schließlich betreut die AWO viele Menschen und ist Arbeitgeber vieler Menschen. Ich entscheide mich, genauer hinzusehen und in die Recherche einzusteigen. Eine gute Entscheidung. Schon bald stellt sich heraus, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit nicht durch einen einzigen Fehler entstanden ist, sondern über Jahre hinweg Misswirtschaft betrieben wurde. 2,8 Millionen Euro Schulden sind aufgebaut worden. Ein vielfaches des Defizites, was bisher öffentlich beannt war. Und: Anders – als es bisher versucht wurde, darzustellen – ist diese Summe nicht durch Gegenwerte wie Immobilien abgesichert.
Ich wähle eine harte Gangart. Zitat aus dem Kommentar: „Sie sind ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen. Diese Tatsache allein sollte die Beteiligten zum Rücktritt aus allen politischen oder sonstigen Ämtern bewegen. Zeigt Courage und steht zu dem Mist, der verzapft wurde. 2,8 Milionen DM Defizit lassen sich durch nichts wegdiskutieren.“ Allen voran richtet sich die Aufforderung zum Rücktritt an den Vorsitzenden der AWO, Raimund Kräussl-Pustelnik, der auch für die SPD im Leeraner Stadtrat sitzt. Soweit so gut. Rücktritte zu fordern muss gut überlegt sein, gehört zum Journalistenleben dazu. Und wenn es dazu nicht kommt – dann heißt es weiter am Ball bleiben.
Diese Rücktrittsforderung werde ich aber immer in besonderer Erinnerung behalten. Warum? In diesem Fall ist es – wie häufiger – die Geschichte hinter der Geschichte. Ich hatte am Tag vor dem Erscheinen meinen Text und Kommentar fertiggeschrieben und bin mittags zum Essen bei meinen Eltern. Wie immer, wird über die anstehende Ausgabe des „SonntagsReport“ gesprochen. Meine Eltern sind ja neugierig, denn es ist ja jede Woche was los in diesen Zeiten. Ich berichtete von der AWO-Geschichte, meinen Recherchen und lehne mich weit aus dem Fenster: „Morgen wird der Vorsitzende der AWO, Kräussl-Pustelnik, von allen Ämtern inklusive Stadtrat zurücktreten. Das wird dann auch in der SPD-Fraktionen zu Konsequenzen führen.“ Die Zeitungsproduktion verläuft ruhig, der Sonntag kann kommen.
Erst morgens am Frühstückstisch wird es wieder unruhig für mich. Meine Eltern waren abends zuvor bei einem Tanzball bei Schrock-Opitz. Wie so häufig, haben sie an einem langen Tisch gesessen, an diesem Abend mit Bürgermeister Günther Boekhoff und SPD-Ratsherr Wilhelm Mohr. Mein Vater fragt mich: „Warum bist Du Dir so sicher, dass Herr Kräussl-Pulstelnik heute zurücktritt?“. Ich erkläre, warum es keinen anderen Weg gibt. Darauf mein Vater: „Das sehen Boekhoff und Co. Aber ganz anders“. Ich schaue ihn etwas entsetzt an. „Wieso?“ Antwort: „Ich habe gestern Abend am Tisch erzählt, dass heute wohl mindestens ein Rücktritt in den SPD-Reihen zu erwarten ist. Sie wollten wissen, wieso ich das meine. Und da habe ich gesagt, dass Du mitttags prophezeit hast, dass das nach Erscheinen Deiner Texte über die AWO unumgänglich ist.“ Puhhhh… ich bin einen Moment konsterniert. Dann frage ich nach: „Was hast Du gesagt?“ Antwort: „Na das, was Du gemeint hast.“ Oh je… Ich bin mir ja sicher, aber wenn nun doch nicht… denke ich.
Nun gut. Ich fahre – wie immer – am späteren Vormittag in die Redaktion. Aufräumen. Dieses Mal bin ich ziemlich angespannt. Wie werden die Reaktionen auf Bericht und Kommentar ausfallen? Liege ich mit meiner Einschätzung richtig? Was bedeutet es, wenn es nicht zum Rücktritt kommt? Dann rattert vor 12 Uhr das Faxgerät (das war damals das modernste Kommunikationsmittel). Sonntags ist das eher selten der Fall. Ich gehe hin – und es ist das, was ich erwartet habe. In wenigen Zeilen teilt Raimund Kräussl-Pustelnik mit, dass er sich aus der Politik mit sofortiger Wirkung zurückzieht. Für die SPD ist dieser Rücktritt mit weiteren Konsequenzen verbunden. In der Folge gibt auch Fraktionschef Gernot Beykirch sein Amt ab – und Wilhelm Mohr – er saß bei Schrock-Opitz mit am Tisch – wird für viele Jahre Chef der Sozialdemokraten im Rathaus…
Die Entwicklung der AWO und der SPD werde ich noch einige Zeit journalistisch begleiten. Und eines habe ich familienintern „nebenbei“ auch geklärt. Über meine Berichte wird mit Dritten seitdem nur noch gesprochen, wenn Sie erschienen sind…
Und nächsten Sonntag, Punkt 9 Uhr, geht es mit „Immer wieder sonntags“ weiter. Dann lautet der Titel: DER EMSKANAL … wie ein kleiner Trick eine Berichterstattung ermöglicht, die nach Erscheinen erst drei Monate von der Landesregierung dementiert wird und sich dann doch als die Wahrheit herausstellte.
Schreiben Sie einen Kommentar: