Es ist Januar 1990. Die Mauer ist vor wenigen Wochen gefallen, weil die Menschen dort auf die Straße gegangen sind. Deutschland ist in einer ganz besonderen Stimmung. Es liegt einiges in der Luft – und im Mai stehen in Niedersachsen Landtagswahlen an. Also erlebe ich, wie die Politiker versuchen, aus den Entwicklungen in der DDR Kapital zu schlagen. In dieser Phase besuche ich zwei Parteiveranstaltungen – eine der SPD und eine der FDP. Was beide gemeinsam haben? Die Redner stellen sich hin und betonen die Bedeutung der Ostpolitik ihrer Parteien, die – so bringen sie zum Ausdruck – „einen wichtigen Anteil am Zusammenbruch der DDR gehabt haben“. Ich kriege mich kaum mehr ein – anscheinend versucht im Moment wirklich jeder davon profitieren zu wollen, dass die Menschen in der DDR ihre Regierung gestürzt haben.
Zurück in der Redaktion, setzte ich mich an den Rechner und haue vor Frust einen meiner ersten politischen Kommentare „raus“. Was bilden sich die Politiker ein? Ich bin sauer. Ohne die Furchtlosigkeit der DDR-Bürger, die trotz der Bilder vom Massaker in China, als Panzer einfach Demonstranten überrollten auf die Straße gingen, obwohl sie nicht wussten, was mit ihnen passiert und ob und wie die SED-Diktatur eingreift, hätten die westdeutschen Politiker noch jahrelang mit Worten tolle Politik machen können. In dieser Deutlichkeit wird der Kommentar von meinem Chef „durchgewunken“. Er erscheint mit der Nennung von Ross und Reiter – Josef Lammerskötter, damals Kandidat, und Günther Tietjen – später als Bundestagsmitglied hoch engagiert für den der Erhalt Werft im Leeraner Partnerkreis Wolgast – sind wenig begeistert, wie ich in den Tagen danach höre.
So richtig Reaktionen gibt es nicht – bis zum nächsten FDP-Termin. Da zieht der Politiker Lammerskötter, der vom Beruf Pädagoge ist, so richtig über den „jungen Schreiber“ her. Ich war nicht vor Ort, deshalb hier keine weiteren der abwertenden Zitate – es war aber richtig „Dresche“ die ich bekommen habe.
Warum mir das so in Erinnerung geblieben ist? Es ist die Reaktion meines damaligen Chefs und Ausbilders. Statt eines Kommentars über die Inhalte der Veranstaltung schreibt er sehr klar und deutlich, was er davon hält, wenn ein Politiker über einen jungen Redakteur „feige herzieht“, statt als ausgebildeter Pädagoge das persönliche Gespräch zu suchen.
Ich habe durch diese klare Positionierung gelernt, wie wichtig es ist, einen Chef zu haben, der in den wesentlichen Momenten hinter einem steht und den Rücken stärkt (intern gab es oft genug auch heftige Diskussionen). Ich weiß nicht, ob ich in den Jahrzehnten weiter mutig und ohne Angst jedes Thema aufgegriffen und kommentiert hätte, wenn ich damals diese Rückendeckung nicht gehabt hätte.
Bis heute bin ich dankbar, dass ich erleben durfte, dass es für einen Journalisten selbstverständlich sein sollte, vor nichts und niemandem Angst zu haben, wenn es die Sache und das Thema erfordern. Das hat mein Chef mir oft vorgemacht. Gerade in den vergangenen Tagen muss ich an diese Prägung denken, als mir angesichts der Themen, die ich immer mal wieder aufgreife, wiederholt zu Ohren kam „Hast Du denn gar keine Angst?“ oder „Das Du dich das traust“. Nein, ich habe keine Angst. Wenn sich nach einer guten Recherche herausstellt, dass etwas nicht „passt“, dann gehört es an die Öffentlichkeit. Dafür gibt es den freien Journalismus, der sich weder durch Geld oder Drohungen nicht stoppen lässt…