Die „heiße Ware“: Kfz-Briefe

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Es ist etwas mehr als 30 Jahre her. Ich bin gewisser Weise Wanderer zwischen zwei völlig verschiedenen Welten. Die eine Welt ist meine Heimat. Leer, die schönste Stadt der Welt – und Wolgast – damals eher das Ende der Welt. Während hier alles ordentlich und modern und bunt und vielfältig ist, ist dort alles grau, grau und nochmal grau. Und Tag für Tag wartet ein Erlebnis besonderer Art.

Vieles ist anders, Telefon und Fax oder gar Handy gibt es nicht. Wenn wir hier eine Geschichte schreiben wollen, dann müssen wir auf die Straße gehen. So wie im Frühjahr 1991 fast jeden Tag eine andere Berufsgruppe, die für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren. Unvorstellbar, wie viele Menschen in diesen Tagen pure Existenz- und Zukunftsangst haben. Alles ist im Wandel.

Auch das Leben ist wirklich „anders“. Angefangen bei der „Versorgungslage“ mit Lebensmitteln – die Flasche Cola kostet im Konsum das Dreifache wie bei multi in Leer und manches gibt es gar nicht – bis hin zur Wohnung, in der das Wasser manchmal einfach abgeschaltet ist oder oder oder oder. Immerhin hat der beißende Geruch der Braunkohle aus den Wintermonaten mittlerweile nachgelassen.

Unvergesslich bleibt der erste Kneipenbesuch. Ich bin im „Pilsator“ – was für ein Name. Meine beiden Kollegen bestellen ein Bier. Ich möchte eine Cola. Antwort vom Kellner: „Gibt’s nicht“. Hat er keine Cola? Antwort „Gibt’s nicht“. Er bringt dann zwei Bier und einen großen Orangensaft. Ich schaue ihn verwundert an. Darauf er: Der Saft muss erst auf, dann kannst auch `ne Cola kriegen.“ Als er mir dann später die „Club-Cola“ bringt, denke ich: Der Saft war auch keine so schlechte Wahl…

Im Aufbau ist auch alles, was mit bundesdeutschen Gepflogenheiten und Gesetzen zu tun hat. Und manches ist in der Nach-Wende-Zeit dann auch Mangelware. Als wir eine Geschichte über die Zulassungsstelle für Autos schreiben (im Osten fährt damals wirklich alles rum, was vier Räder hat und im Westen Ladenhüter war), erfahren wir, dass seit einiger Zeit die Bundesdruckerei keine Kfz-Briefe mehr geliefert werden. Da helfen dann die guten Kontakte meines Chefs zum Landkreis Leer. Da ich am Wochenende die knapp 600 Kilometer gen Heimat fahre – auch das ist ein Abenteuer, man muss vor allem die Tankstopps planen, da auch Tankstellen noch Mangelware sind – darf ich beim  Straßenverkehrsamt in der Ledastadt die Amtshilfe abholen. 100 Kfz-Briefe im Original – wenn das ein Autodieb gewusst hätte, was ich da transportiere… Ich werde „gebrieft“, was ich da für eine „heiße Ware“ im Gepäck habe. Es geht alles gut. Montag morgen kommen die hochoffiziellen Dokumente in der Wolgaster Behörde an. Eine Geschichte darüber habe ich nie geschrieben, denn von dieser Amtshilfe zwischen den Partnerkreisen sollte damals niemand etwas mitbekommen… In vier Jahren „Dunkeldeutschland“ – so nenne ich es damals, weil es im Winter schon kurz nach 15 Uhr dunkel ist und frische fröhliche Farben im Stadtbild gleich Null sind – kommen viele weitere Storys dazu.

Bis heute bewegt mich, was die Menschen damals für eine Veränderung im Turbo-Tempo durchgemacht haben. Einmal durchstarten innerhalb von nicht einmal einem Jahr vom Sozialismus in den Kapitalismus der reinsten Form. In Erinnerung bleibt mir ein Gespräch mit einer Kollegin aus der Druckerei über die Folgen der Umwälzung. Auf die Frage, was sich denn geändert hat seit der „Wende“, meint sie: „Ganz einfach: Wenn ich früher meinen Nachbarn gefragt habe, ob er mir helfen kann, dann hat er geantwortet: Was hast Du denn? Und wenn ich ihn heute frage, dann fragt er: Was bekomme ich dafür?“ Und eines sei auch noch anders: „Früher hatten wir Geld, aber es gab nichts zu kaufen. Heute ist es umgekehrt.“

Im Rückblick verstehe ich heute auch, warum sich die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen ihre Leser behalten haben und uns mit dem „Wolgaster Anzeiger“, wie alle anderen Neugründungen, die Abonnenten nicht in großen Scharen zugeflogen sind. Die SED-Parteiblätter hatten noch viele der alten Redakteure, die sich Tag für Tag nur darauf konzentriert haben, eine – wie wir es damals nannten – „Friede, Freude. Eierkuchen-Berichterstattung“ zu machen. Kritische Texte, die die Geschehnisse durchleuchteten und auch mal mit der Faust auf den Tisch hauten, gibt es in der „Ostsee-Zeitung“ und im „Nordkurier“ so gut wie nicht. Warum das funktioniert hat? Na, die Menschen haben genug andere, persönliche Sorgen. Und warum noch? Solange im Boulevard-Blatt Bild ein Stasi-Akteur „aufgeflogen“ ist, der irgendwo im Thüringer Wald jemanden durch seine Bespitzelung in den Bautzener Knast gebracht hat, ist das etwas, was gerne gelesen wird. Aber wenn es jemanden aus der Region rund um Wolgast trifft, den wir mit dem „WA“ aufgedeckt und auf die Füße getreten sind, dann ist das halt auch ein Mitglied der Familie, Freund, Vereinskamerad etc. etc. Und das möchte halt niemand lesen. Heute weiß ich, dass der West-Journalismus für das Lokale im Osten einfach zu früh kam.

Nun gut, in gewisser Weise haben sich Ost und West ja in den vergangenen Jahrzehnten wenigstens in dieser Hinsicht angeglichen. Kritischer Journalismus wird im Zeitalter des „Unterhaltungs-Internets“ immer mehr Mangelware. Schade.


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