Man sollte doch meinen, dass in Deutschland alles erfasst ist und jede Statistik, die erfunden werden könnte, bereits geschrieben ist. Um so überraschender ist es, dass regelmäßig die einfachsten Entwicklungen nicht treffsicher vorhergesagt und Planungen nicht rechtzeitig angeschoben werden. Wie ist es sonst erklärlich, dass immer noch „kurzfristig“ Millionen Wohnungen fehlen, Klassenräume an Schulen nicht ausreichen oder Eltern ewig auf einen Kindergartenplatz warten, der dann irgendwann in einem Übergangs-Container angeboten wird.
Ja, das mag etwas plakativ klingen, macht aber deutlich, warum das, was in diesem Jahr ansteht, sinnvoll ist: der Zensus. Ab 16. Mai soll wieder bundesweit ermittelt werden, wie viele Menschen wo wie leben. Auch im Kreis Leer. Dafür werden etwa 160 Ehrenamtliche gegen kleines Geld unterwegs sein. „Erhebungsbeauftragte“ heißen die im Amtsdeutsch und werden in Kürze geschult. Das Interesse an diesem Beauftragten-Dasein ist groß, seit der Kreis mit der Suche begonnen hat. Aktuell haben sich 150 Interessierte gemeldet. Pro Hausbesuch können bis zu 20 Euro verdient werden.
Was bis Ende Juli unter der aktuellen Bezeichnung Zensus umgesetzt wird, hat eine lange Tradition – erstmals soll eine Volkszählung 2.700 vor Christus in Ägypten vorgenommen worden sein. 2022 scheint das reibungslos zu laufen. Ganz anders als noch in den 1980 Jahren. Damals hatte es Widerstand vor allem wegen der Gefahr des Missbrauchs der gesammelten Daten und der damals geplanten Methode einer Totalerhebung gegeben. Der Gesetzgeber musste anpassen, und so werden – wie zuletzt 2011 dieses Mal nur etwa zehn Prozent aller Haushalte befragt. Im Kreis Leer also deutlich unter 2.000. Wer Besuch bekommt, darauf hat in der Region niemand Einfluss. Die Anschriften wurden per Zufallsprinzip als Stichprobe durch das Statistische Bundesamt gezogen. Und wer Besuch bekommt, der hat keine Wahl. Er ist gesetzlich zur Auskunft verpflichtet.
Was die Zählung für den Kreis Leer bedeutet? Unzählige Daten und Fakten. Die Befragung hat zwei Ziele und zwei Wege. Ziel 1: die Existenzfeststellung des Befragten. Im direkten Gespräch wird Vorname, Name, Geburtsdatum, Geschlecht sowie Familienstand, Staatsangehörigkeit und Wohnstatus „ermittelt“. Ziel 2, abgefragt über digitale Wege: Informationen zur Zuwanderung, Bildung und Ausbildung, Berufstätigkeit, Arbeitssuche, derzeitige Haupttätigkeit, Arbeitsort, Branche und Wirtschaftszweig sowie Beruf.
Und wofür der Aufwand? Wenn dann alle Daten verallgemeinert und als Durchschnitt berechnet sind, sollen sie – wen wundert´s – diese ganz offiziell als Planungs- und Entscheidungsgrundlage für Politik und Verwaltungen dienen. Speziell Infrastrukturmaßnahmen, wie zum Beispiel der Bau von Schulen und Kindertagesstätten oder Altenheimen, könnten dann, so schreibt der Landkreis, besser geplant werden. Dann seien wir mal gespannt, ob das mit den Zahlen aus 2022 besser funktioniert als in der Vergangenheit. Wie heißt doch der gern zitierte Spruch: Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast…
Bevor hier nun vermutet wird, dass der Zensus eher Alibi- statt Nutzen-Charakter hat. Nein, in einer Hinsicht ist das, was die Bürgerinnen und Bürger im Kreis Leer in den nächsten Monaten an Antworten geben, auf jeden Fall bedeutsam. Es geht langfristig um Geld, viel Geld. Denn aus den ermittelten Daten werden Ausgleichzahlungen wie der Länderfinanzausgleich und der kommunale Finanzausgleich, sowie EU-Fördermittel pro Einwohner berechnet. Insofern ist es wichtig, dass der Kreis seine „Erhebungsbeauftragten“ gut qualifiziert und jeder, der einen Befrager vor seiner Tür stehen hat, seriös mitmacht. Denn egal, was in Deutschland entschieden wird: Am Ende ist es immer eine Statistik oder Prozentzahl, die die Richtung vorgibt…