Zeitungen verkaufen mit Cap und Sonnenbrille

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Schon immer – und nicht erst, seit es das Internet gibt – ist es das Ziel eines Redakteures, eine Zeitung so mit Inhalten zu füllen, damit sie sich gut verkaufen lässt. Abonnenten zu gewinnen und zu erhalten, ist dabei eine große Herausforderung. Mit – vor allem lokalen – spannenden Themen auf der Titelseite Menschen im Supermarkt oder beim Zeitschriftenhändler zum Kauf zu motivieren, ist die „Königsaufgabe“.

Bei der „Zeitungsmache“ in Wolgast 1991 ist die Aufgabe eine ganz besondere. Mit dem Wolgaster Anzeiger machen wir eine neue Zeitung für den Kreis Wolgast, die es bis zur Zwangseinstellung durch die Nationalsozialisten in der Region schon einmal gegeben hat. Wir hatten gehofft, dass wir mit frischem und kritischem Journalismus viele Zeitungsleser der ehemaligen DDR-Bezirksblätter für uns gewinnen können – doch daraus wird nichts. Auch ein günstiger Preis im Abo oder am Kiosk hilft nicht. 50 Pfennig kostet die Ausgabe jeden Morgen am Kiosk, aber irgendwie kommt die Auflage nicht so richtig „aus dem Knick“. Also sind Ideen gefragt. Bessere und provokantere Schlagzeilen? Nein, wir sind ja nicht „Boulevard“ und nicht jeden Tag gibt es einen Skandal, Unfall oder Großbrand, der das Interesse weckt.

Was also machen? Eine Idee ist, in Wolgast die Brückenöffnungszeiten zu nutzen. Mehrmals am Tag bildet sich vor allem in den Sommermonaten jeweils eine lange Autoschlange auf beiden Seiten der Peene. Da haben die Menschen Langeweile und wenn dann jemand als Zeitungsverkäufer an den Autos vorbeigeht…

Wie bei allen anderen Themen, die mit der Zeitungsmache verbunden sind, will ich es auch hier selbst erleben, wie es ist, Zeitungen aus der Hand heraus zu verkaufen. Nachts den Zeitungswagen gefahren oder selbst Zeitungen verteilt, das habe ich bereits. Ebenso auch Anzeigen verkauft oder gesetzt, an der Druckmaschine mitgearbeitet oder Vertrieb und Buchhaltung kennen gelernt. Also fehlt noch die „Verkaufserfahrung“. Ich entscheide mich, selbst diesen Verkauf zu testen. Nur erkennen sollte mich niemand, schließlich ist es kein guter Eindruck, wenn der Chef vom Dienst selbst die Zeitungen verkauft. Also Baseball-Cap aufgesetzt und dazu noch eine große Sonnenbrille – das sollte reichen, um unerkannt unterwegs zu sein.

Beim ersten Mal sind die Erfahrungen unvergesslich. Ich verkaufe fast keine Zeitung. Nur ein Käufer findet sich – und diese Situation ist mir gut in Erinnerung geblieben. Ich klopfe also an einer Autoscheibe an, sie geht runter. Ich biete die Zeitung an und sehe, dass der, der am Lenkrad ist, kein Unbekannter für mich ist. Ich will ja nicht erkannt werden, als gehe ich schnell weiter.  Dann geht die Tür auf und der Ruf lautet: „Junger Mann, kommen Sie bitte mal zurück“. Ok, vielleicht doch Interesse? Als ich wieder bei dem Auto bin, meint der Fahrer: „Nehmen Sie doch bitte mal die Sonnenbrille und die Mütze ab“. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Darauf der Kommentar: „Hab` ich es doch gewusst, dass Du das bist!“ Er lachte und meinte, dass das ja ein Ding sei, dass ich sogar Zeitungen verkaufen würde. Es war der langjährige Fußballfunktionär des VfL Germania Leer, Bernhard Fecht, der mit seiner Familie auf Usedom Urlaub machte. Ich habe ihm dann erzählt, dass ja ich weiterhin eigentlich die Texte schreibe und das nur mal so ausprobiere. Ob er mir das geglaubt hat, weiß ich nicht, schließlich wurde damals auch in Leer bereits gemunkelt, dass der Wolgaster Anzeiger wirtschaftlich nicht läuft…

Apropos Zeitungsverkauf. Das Thema hat mich bis zur Arbeit als Chefredakteur immer wieder eingeholt. Da dann jedoch unter ganz anderen Aspekten. Es gibt in den 2000er Jahren ja Computer und Statistiken, die von Controllern in jeglicher Hinsicht ausgewertet werden. Also gibt es auch genaue Erfassungen, an welcher Verkaufsstelle an welchem Tag wie viele Zeitungen gekauft werden. Mein damaliger Chef will es genau wissen. Er fordert mich auf, vier Wochen lang jeden Tag die Titelseiten (Welche Themen? Welche Optik?) auszuwerten, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen, warum wann mehr oder weniger Zeitungen gekauft werden. Eine Heidenarbeit. Und die Ergebnisse? Unbrauchbar. Es lässt sich fast nichts an Trends erkennen, die wir für die Zeitungsmache wirklich gebrauchen können. Klar, wenn es ein Unglück gibt, dann wird mehr verkauft. Und wenn am Wochenende Fußball gespielt wird, dann montags auch. Aber welche Rolle spielt es, ob am Monatsbeginn das Geld noch etwas lockerer sitzt? Welche Bedeutung hat das Wetter, wenn bei Regen weniger Menschen einkaufen gehen? Usw. usw. Kurzum: Wichtig war, dass der Einzelverkauf über die Monate hin stabil blieb. Das gelang weitgehend, allerdings führte nahezu jede Preiserhöhung für die Zeitung – auch für das Abo – zu Rückgängen.

Und trotzdem habe ich aus der Erfahrung an der Schlange der wartenden Autos für die Zeitungsmache viel gelernt. Nicht nur, dass Sonnenbrille und Cap nicht als Verkleidung nicht reichen, sondern vor allem, dass jede verkaufte Zeitung hart erarbeitet sein muss – und die „Vorfahren“ viel geleistet hatten, dass wir als Basis viele tausend Abonnenten hatten, die über lange Zeit überzeugt worden waren. Am Ende sind bis heute das Vertrauen der Leser in die Inhalte der Zeitung, die Bindung zu den Menschen und vor allem der lokale Bezug der Inhalte zur Lebenswelt der Leser vor Ort die bis heute die wichtigste Grundlage. Ganz egal, ob diese Inhalte heute digital oder eben noch klassisch in gedruckter Form zum Leser kommen.


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    Holger HartwigZeitungen verkaufen mit Cap und Sonnenbrille