Das Baby als Vorbild

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Von Holger Hartwig*

Was kann ein Baby, wenn es auf die Welt kommt, als allererstes? Es ist in der Lage, seine Bedürfnisse – und das sogar ohne die Verwendung eines einzigen Wortes – zum Ausdruck zu bringen. Wenn es Hunger hat oder sich unwohl fühlt, dann schreit es. Wenn es ihm gut geht und es zufrieden ist, dann lächelt es die Menschen um sich herum zufrieden an.

Es ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, dass wir Menschen unsere Bedürfnisse kennen und wir dafür sorgen, dass diese Bedürfnisse auch befriedigt werden. Wer zu lange seine Bedürfnisse nicht befriedigt, wird unzufrieden und – wenn er nachhaltig nicht ausreichend auf seine Bedürfnisse und auf sich achtet – auch krank.

Wie in vielen anderen Bereichen des Lebens wird das, was für ein Baby oder ein Kind selbstverständlich ist (z.B. ich sage das, was ich will… ich lasse andere spüren, wenn mir etwas nicht passt… ich drücke meine Empfindungen über meinen Gesichtsausdruck aus…), mit fortschreitendem Alter immer komplizierter. Viele Menschen verlernen es, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und dann auch auszusprechen, um für sich selbst zu sorgen. Vielmehr erwarten Sie, dass die Menschen um sie herum ihre Bedürfnisse kennen müssen, weil „die anderen ja genauso denken und empfinden wie ich“ bzw. sie gehen davon aus, dass das Umfeld schon mitbekommt, was mit mir gerade los ist. Bei etwas genauerer Betrachtung dieser Sichtweisen ist klar: Das kann nicht funktionieren!

Gründe, warum Erwachsene ihre Bedürfnisse nicht eindeutig kommunizieren, gibt es viele.

Erstens: Manche wissen nicht einmal, was sie wirklich wollen.

Zweitens: Andere fehlt der Mut, die Wünsche zu äußern, weil sie Angst davor haben, dass das „Umfeld“ damit nicht umzugehen weiß.

Drittens: Einige kennen zwar ihre Bedürfnisse, wissen aber nicht, wie sie diese ihrem Umfeld durch Worte oder Taten zum Ausdruck bringen.

Fest steht: Das Miteinander von Menschen kann nur funktionieren, wenn sich jeder „erlaubt“, seine Bedürfnisse offen auszusprechen oder die Befriedigung auch offen einzufordern. Das Miteinander von Menschen kann nur funktionieren, wenn nicht darüber spekuliert wird, was der andere für Gedanken bzw. Bedürfnisse durch sein Handeln ausdrücken könnte, sondern einfach gefragt wird, z.B. Was wünscht Du Dir? Was willst Du mit Deinen Worten oder Deinen Verhalten errreichen?

Es ist einfacher, als viele denken. Kinder können das…

Nun noch ein kleiner (leicht akademischer) Ausflug zu den Bedürfnissarten, denn das kann helfen, sich in ersten Schritt seiner eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden:

Bindung: Das Baby wäre ohne die Eltern nicht lebensfähig – der erwachsene Mensch ist es ebenso nicht. Ohne (An)bindung an andere, z.B. Freunde, Familie. Mit Menschen im nachhaltigen vertrauensvollen Austausch zu sein, befriedigt das Bedürfniss nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Autonomie: Die Kinder machen es vor – sie werden größer und wollen nicht mehr ausschließlich von den Entscheidungen der Eltern abhängig sein. Sie suchen die Autonomie in ihrem Handeln. Kurzum: Das Leben selbst in der Hand zu haben und täglich selbst zu gestalten (statt z.B. von Arbeitskollegen oder dem Partner „bevormundet“ zu werden), ist ein Grundbedürfnis. Es gibt den Wunsch, das eigene Leben selbst zu kontrollieren, zu bestimmen und die „Macht über sich selbst zu haben“. Demgegenüber steht andererseits die Abhängigkeit, die sich durch Bindung ergibt. Hier ist die Aufgabe eines jeden Menschen, für sich die passende Balance zwischen Autonomie und Bindung zu finden.

Selbstwert/Anerkennung: Seinen Wert selbst zu spüren und sich selbst anzuerkennen bzw. dann auch durch andere anerkannt zu werden, ist ein angeborenes Bedürfnis und der zentralste Aspekt unserer Psyche. Der erwachsene Mensch ist darauf angewiesen, seinen „Wert“ immer wieder durch sein Umfeld bestätigt zu bekommen. Wer sich nicht anerkannt fühlt bzw. seinen eigenen Wert nicht schätzt, hat zudem auch mit der Anerkennung und der Wertschätzung anderer Menschen in der Regel seine Herausforderungen. Zu wissen, dass jeder Mensch dieses Bedürfnis hat, hilft, in vielen Situationen verständnisvoller agieren zu können.

Befriedigung: Nein, damit ist (nicht) nur die sexuelle Befriedigung gemeint. Es geht darum, dass der Mensch lernt, sein Lust- und Unlustempfinden zu erkennen. Das Leben ist nicht immer Sonnenschein und oft müssen eigene Bedürfnisse erst einmal zurückgestellt werden, weil andere Aufgaben Vorrang haben (z.B. bei schönem Wetter möchte ich viel lieber schwimmengehen statt zur Arbeit zu gehen). Dann kommt es darauf an, das Bedürfnis durch eine gewisse Frustration(stoleranz) – „Das geht jetzt nicht anders“ – nach hinten zu stellen, und es durch Aufschub später zu bedienen bzw. zur Seite zu stellen und zu schauen, was einem stattdessen an diesem Tag guttun könnte, um ausgeglichen und zufrieden zu bleiben.

Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.


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