Schwere Verkehrsunfälle oder Gewaltverbrechen – sie gehören zum Berufsalltag eines Journalisten dazu. Einige „Spezialisten“ – meist aus dem Boulevard – haben sogar Freude an diesen Ereignissen. Die meisten Kolleginnen und Kollegen aus dem Lokalen hingegen sind froh, wenn der Kelch der Berichterstattung vor Ort an ihnen vorbei geht.
Es ist ein lauschiger Sommerabend in der Lokalredaktion. Die Zeitung für morgen ist fast fertig. Dann klingelt das Telefon. Ein Bürger ruft an: „Hier in der Nachbarschaft wimmelt es von Polizei. Da hat es wohl einen Mord gegeben.“ Klar ist, dass wir als lokale Zeitung in einem solchen Moment vor Ort sein sollten.
Ich gehe also durch die Redaktion und frage, wer rausfährt. Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Ich habe mich früher auch immer gedrückt, wenn es hieß „Mach da mal eine schöne Geschichte raus“ oder in meiner Zeit in Berlin noch drastischer von der Chefin „Ich will wissen, mit was für einer Schnapsflasche der Döner-Mann erschlagen wurde und wieviel Blut geflossen ist“ (da habe ich mich geweigert).
Und an diesem Abend? Keiner will es machen, also muss der Redaktionschef hin. Das Ziel: Fotos und ein größerer Artikel für die Titelseite. Ein Kollege meldet das Thema in der zentralen Redaktion an. Ich habe ziemlich „Muffensausen“: Wird es mir gelingen, mit einem Ermittler der Kripo ins Gespräch zu kommen oder verweisen die gleich auf die natürlich um diese Uhrzeit nicht mehr besetzte Pressestelle in der Polizeidirektion? Schaffe ich es, aus den Nachbarn etwas herauszubekommen über die Bewohnern im Haus und zu der getöteten Person? Die kurze Fahrt in das Wohngebiet lässt mir etwas Zeit, um mir kreative Gedanken zu machen. Irgendwie hat`s ja immer geklappt, wenn ich „im Dienst“ war…
Vor Ort ist die Lage mittlerweile sehr ruhig. Es steht kaum noch ein Nachbar draußen und beobachtet die Szenerie. Ein wenig erzählt mir ein Mann über das Haus, in dem die Tat geschah, und über die Bewohner. Allzu viel ist das nicht. Auch der Kripo-Beamte ist wenig gesprächig. Die Ermittlungen würden ja schließlich noch laufen, erklärt er mir. Lediglich den Tod an einer Frau mittleren Alters durch Anwendung von Gewalt könne er bestätigen und wann die Tat passiert sei. Alles weitere – die Pressestelle werde am nächsten Tag informieren…
So ein Mist, denke ich. Wie soll aus den wenigen Infos ein interessanter Text werden? Ich mache erst einmal einige Fotos vom Haus und den Polizeifahrzeugen und schaue mich etwas um. Dann sehe ich durch einen Zufall: Bei dem Haus, in dem die Tat geschah, ist ein Fenster auf. Ich gehe auf das Nachbargrundstück und spitze die Ohren. Ja, die Ermittlungen sind noch in vollem Gange, das ist nicht zu überhören. Ich entscheide mich, da nun einfach mal nichts tuend irgendwie in der Gegend herumzustehen – mit großen Ohren. Infos satt aus den Gesprächen der Ermittler – zwar ohne offizielle Quelle, aber meine Ohren haben es ja live gehört…
Nach etwa zwei Stunden geht es zurück in die Redaktion. Nun ist Fingerspitzengefühl gefragt. Nicht alles, was ich mitbekommen habe, sollte ich auch schreiben. Schließlich gibt es ja auch immer Täterwissen und die Polizei filtert sehr genau, was zur Veröffentlichung kommen soll bzw. darf. Am Ende ist mein Text rechtzeitig fertig und die Leser bekommen einen umfassenden und hintergründigen Eindruck von einem Geschehen, dass in der kleinen Stadt ja nicht so häufig vorkommt…
Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr bin ich dann noch gar nicht ganz am Schreibtisch angekommen, da klingelt bereits das Telefon. Die Pressestelle der Polizei ist am anderen Ende. Mein Puls geht hoch: Was hat dieser Anruf zu dieser frühen Uhrzeit zu bedeuten? Etwas übersehen, etwas falsch gemacht bzw. geschrieben? Na ja, wenn es eng wird, kann ich mich ja am Ende noch auf den Informantenschutz berufen. Der Pressesprecher beginnt das Gespräch freundlich. Er habe ja mit großem Interesse die hochaktuelle Berichterstattung gelesen, die ja sehr viele Details beinhaltet habe. Woher ich das denn wüsste, fragt er mich. Ich denke: Am besten mit Gegenfrage reagieren, damit ich gleich weiß, worauf es hinausläuft. „Stimmt denn etwas von dem nicht, was ich geschrieben habe?“ Lange Pause am anderen Ende. „Nein“, stellt der Pressesprecher klar. Alles, was gedruckt worden sei, sei in der Sache korrekt. „Das habe ich intern zwischenzeitlich prüfen lassen.“ Ok – und wo ist dann das Problem, frage ich. Seine Antwort: „Wir können uns beim besten Willen nicht erklären, woher Sie die vielen Informationen haben. Da stehen teilweise Aspekte drin, die nicht einmal in unseren internen Protokollen beschrieben sind, die sich aber auf Nachfrage als richtig bestätigten.“ Er möchte gerne wissen, wie ich an diese Informationen gekommen bin bzw. ob ein Mitarbeiter vor Ort entgegen den Anweisungen mit mir intensiv gesprochen habe. Natürlich äußere ich mich dazu nicht…
Selbst in der Redaktion habe ich nicht erzählt, wieviel Glück ich an diesem Abend hatte, denn von den Polizisten vor Ort hatte ja wirklich niemand etwas „rausgerückt“. Das war übrigens 15 Jahre zuvor noch anders. Da kannten sich Journalisten und Polizisten besser und jeder wusste, was er von dem anderen zu halten hatte. Und die „Freunde und Helfer“ wussten genau, was sie wem dann doch gesteckt haben. Sie wussten ja, auf wen sie sich verlassen konnten und das der Zeitungsmensch auch nur seinen Job macht. Nicht selten gab es auch einen kleinen „Deal“. Als Journalist hattest du die bessere Kameraausrüstung und machtest im Vor-Digital-Zeitalter die besseren Schwarz-Weiß-Fotos. Oft kam die Frage, ob der Redakteur vielleicht noch dies oder das fotografieren wolle. Abzüge der besten Motive landeten dann tags darauf wie selbstverständlich auf dem Revier. Ärger wegen dieses Miteinanders hat es übrigens nie gegeben. Wie sich die Zeiten doch geändert haben…