Die undichte Stelle

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Bei der Arbeit in einer Redaktion kommt es täglich darauf an, dass mit Informationen sorgsam und vertraulich umgegangen wird. Das gilt mit Blick auf Informanten, aber auch im Umgang innerhalb der Redaktion. Alles, was in den Konferenzen besprochen wird, sollte die Räume nicht verlassen, zumal mancher Spitzname für Akteure in der Region oder manch` bewertender Satz auch eher nicht „zitierfähig“ ist.

Vor vielen Jahren übernehme ich eine Redaktion. Die Aufgabenstellung hat es in sich, mein Vorgänger hat die journalistische Arbeit über mehrere Jahrzehnte – und das ist vorsichtig formuliert – stark geprägt und auf seine Art und Weise Akzente gesetzt. Ich kann nicht sagen, dass ich den Eindruck habe, dass ich in der Region als Ostfriese wirklich willkommen bin. Manches Erlebnis ist schon in den ersten Wochen sehr speziell…

Besonders erinnere mich daran, wie sehr ich in den ersten Monaten immer wieder verwundert bin, wie „schlau“ vieler meiner Gesprächspartner sind. Ich stelle teilweise im Telefonat die komplexesten Fragen und meine Gesprächspartner können fachlich in der Sache kompetent und vor allem umgehend antworten. In einer der Redaktionskonferenzen in den ersten Wochen zolle ich meinen Kollegen gegenüber den Respekt über die fachliche Qualität und bringe zum Ausdruck, dass ich das so in keiner Region, in der ich tätig war, bisher erlebt habe. Gedanken, wieso das so sein könnte, mache ich mir nicht.

Erst fast 1,5 Jahre später kommt mir die Redaktionssitzung und meine Worte wieder in den Sinn. Es ist eines Morgens um kurz nach 9 Uhr, als mir ein Licht aufgeht, dass das vielleicht doch alles kein Zufall gewesen sein könnte. Es geht mal wieder politisch etwas heikel zu und ich halte es für sinnvoll, beim Bürgermeister einen persönlichen Gesprächstermin zu vereinbaren. Wie üblich, trage ich den Termin mit einigen Stichworten in meinen digitalen Kalender ein, auf den – so ist es in jedem Unternehmen üblich – die engsten Vertrauten Einsicht habe. Wenige Minuten später passiert etwas, was für mich unvorstellbar ist – bis heute. In meinen E-Mail-Postfach trudelt eine Nachricht ein, die offenbar nicht für mich bestimmt war. In der Nachricht, die aus meinem direkten Umfeld versandt wurde, heißt es: „Lieber XYZ, HH hat nächste Woche am XX um XX einen Termin beim Bürgermeister. Es geht um folgende Themen:….“. Normalerweise habe ich meine Bürotür immer geöffnet, jetzt muss ich sie schließen. Ich brauche einem Moment, um für mich zu realisieren, was das bedeutet, was ich da soeben gelesen habe. Im Klartext: Alle meine wichtigen Recherchen und Termine könnten mutmaßlich jederzeit nach draußen getragen worden sein, denn der in diesem Fall Angeschriebene verfügte über ein Netzwerk, wie es für gute Journalisten eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Am liebsten wäre ich vor Wut einmal brüllend durch die Redaktion gelaufen und hätte alle zusammengetrommelt und und und. Geht aber nicht. Bewusstes, souveränes und durchdachtes Handeln ist angesagt, denn diese Indiskretion muss – das ist mir klar – Konsequenzen haben. Eine Redaktion mit einer „undichten Stelle“ geht einfach nicht… Das einzig Positive in diesem Moment: Ich wusste mit viel zeitlicher Verspätung endlich, warum meine Gesprächspartner teilweise so perfekt auf meinen Anruf vorbereitet waren…

Ich entscheide mich, an der frischen Luft einmal tief durchzuatmen. Die Redaktionskonferenz wenige Minuten später schwänze ich mit einem Vorwand. Schon bald steht für mich fest: Diese Indiskretion ist nicht hinzunehmen. Ich rufe in der Chefredaktion an und versuche, möglichst ruhig die Situation zu beschreiben. Eines stelle ich aber gleich klar: Für mich gibt es mit Blick auf die verantwortliche Person für die Informationsweitergabe keine Kompromisse. Entweder wird sie zügig von allen Aufgaben entgbunden oder ich werde für mich Konsequenzen ziehen. Die Chefredaktion reagiert umgehend. Ich solle alle Vorkommnisse zu Papier bringen und die vorliegenden Dokumente mitsenden. Dann werde mit der Personalleitung das weitere Vorgehen besprochen. Meine klare Haltung sei nachvollziehbar.

Es folgen Tage, wie ich sie nicht noch einmal erleben möchte und keinem Verantwortlichen in einem Unternehmen wünsche. Du weißt, dass da eine „Zeitbombe“ tickt, denn es wird zu einem „Rauswurf“ der betroffenen Person nach sehr vielen Jahren Betriebszugehörigkeit hinauslaufen. Und du weißt, dass du weder in diesen Tagen noch in den Monaten darüber hinaus – selbst auf Nachfrage und gegenüber den engsten Vertrauten – keine Aussagen zu den Gründen machen darfst. Natürlich wird es für Verwunderung sorgen, wenn eine fristlose Trennung erfolgt.

Es dauert eine knappe Woche, in der ich mir nichts anmerken lassen darf. Der Job inklusive der Recherchen muss weitergehen. Immerhin weiß ich, dass der Bürgermeister und seine Netzwerke alle im Bilde sein werden. Das macht die Aufgabe nicht einfacher. Dann stehen eines Morgens der Chefredakteur und der Personalchef im Büro. Sie haben alles vorbereitet, die betroffene Person wird zum Gespräch gebeten. Es wird nichts dementiert, aber so getan, als wenn das ja nun kein Drama sei. Chefredakteur und Personalleiter machen klar, dass es das war. Wie üblich, in solchen Momenten, bleibt eine halbe Stunde Zeit, um die persönlichen Sachen zu packen. Wenig später werden dann Chefredakteur und Personalleitung meinen Mitarbeitenden verdeutlichen, dass es zu der Freistellung keine Alternative gegeben hat. Auch sie müssen sich verklausuliert ausdrücken und auf Nachfragen wird nicht geantwortet.

Nun ist es zwar raus – und die undichte Stelle wohl geschlossen -, aber natürlich sorgt die unerwartete Trennung von einer langjährigen Redaktionskraft auch in der Region für viel Gesprächs- und Diskussionsstoff. Die vielen Male, die ich angesprochen werde, konnte ich irgendwann nicht mehr zählen. Und ich muss immer wieder um Verständnis bitten, dass ich mich – so gerne ich das damals getan hätte – in der Sache nicht äußern darf. Aus manchen Ecken nehme ich in diesen Wochen durchaus wahr, dass mehr oder weniger erfolgreich auch Stimmung gegen mich gemacht wird. Nach einiger Zeit ist dann doch etwas an Hintergründen durchgesickert, weil aus – sagen wir mal Netzwerken – gegen die Entlassung gearbeitet wurde. Das hat es dann auch etwas leichter gemacht, weil es nicht mehr nur in meine Richtung hieß „Aber man kann doch nicht einfach einem Menschen, der so lange für ein Unternehmen gearbeitet hat, so nach Hause schicken…“.

Heute im Rückblick auf diese Zeit bin ich dankbar, dass ich trotz der undichten Stelle in keine gestellte Falle – auch da fallen mir einige Beispiele ein, die im Rückblick zumindest komisch erscheinen – getappt bin. Wenn andere wissen, was du weist und was du vorhast, dann bist du halt leicht(er) manipulierbar. (Heiße) Themen und Möglichkeiten gab es damals genug. Ich bin seitdem noch vorsichtiger. Und jedem Redaktionsmitarbeitenden, den ich in den folgenden Jahren eingestellt habe, habe ich unmissverständlich klar gemacht, dass das Redaktionsgeheimnis einer der wichtigsten Erfolgs- und Arbeitsfaktoren für guten und kritischen Journalismus ist.

Holger HartwigDie undichte Stelle