Platte Nasen bei der Lebenshilfe

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Es ist Herbst 1990. Bevor es für mich in den „wilden Osten“ nach Wolgast gehen soll, arbeite ich für zwei Monate als Volontär für die Rheiderland-Zeitung – vor allem im Sport. Dann steht für das Lokal ein Termin bei der Lebenshilfe in Leer an. Dort wird an der Groninger Straße ein neues Wohnheim gebaut. Ich kenne die Lebenshilfe, habe dort in der Werkstatt meinen Zivildienst abgeleistet. Also bekomme ich den Auftrag, über diesen Termin zu schreiben. Treffpunkt ist die Baustelle. Die vielen Ehrengäste führt an der Spitze der damalige Sozialminister Walter Hiller (SPD). Die Reden zur Eröffnung sind so, wie ich es erwartet habe. Das neue Wohnheim mitten in der Stadt sei ein gelungenes Beispiel für die Integration der behinderten Menschen (von Menschen mit Handicap sprach damals noch keiner). Nach Teil 1 beim künftigen Albertus-Böse-Hauses (es wird im September 1991 eröffnet) wird in die Zentrale am Großen Stein eingeladen. Dort soll es auch – es ist Mittagszeit – eine Kleinigkeit geben.

Also fahre ich mit meinem VW Käfer an den Großen Stein. Kaum ausgestiegen, erkennen mich einige Werkstattmitarbeiter und kommen sofort auf mich zu. Sie sind aufgeregt, das merke ich sofort. Warum nur? Sie bitten mich, einmal mitzukommen. Wir gehen in Richtung Werkstatt, dort wo die Behinderten immer im großen Saal zu Mittag essen. Ich komme an – und traue meinen Augen nicht. An der verschlossenen Tür zu dem Speiseraum drücken sich zwei Werkstattmitarbeiter ihre Nasen platt. Was ist passiert? Ganz einfach, in dem Speiseraum stand ein opulentes kalt-warmes Buffet für den Empfang der Honoratioren. Genau dort, wo die Behinderten es sonst immer gewohnt waren. Und dann fingen die früheren Kollegen an zu erzählen. Sie hätte heute in dem anderen Speiseraum bereits ab 10.30 Uhr ihr Mittagessen bekommen. Die Würste seien kalt gewesen und der Kartoffelsalat noch gefroren. Ich kann nicht beurteilen, ob das so stimmt. Ich weiß aber eines: Ich habe meine behinderten Freunde immer als grundehrlich und direkt erlebt. Auf diese Menschen kannst du dich verlasen!

Appetit hatte ich nun natürlich nicht mehr, ich ließ die weitere „Zeremonie“ über mich ergehen. Bereits auf Weg in die Redaktion nach Weener war mir klar: Das muss ich kommentieren. Mit deutlichen Worten. Gesagt, getan. Am nächsten Tag steht in der RZ mein Kommentar mit der Überschrift „Platte Nasen“.

Die Tage darauf bleibt es zunächst ruhig. Dann klingelt irgendwann in der Redaktion das Telefon. Ich höre, wie der Chefredakteur Dr. Gunther Faupel sagt: „Ja, Herr Risius, ich schicke Herrn Hartwig zu Ihnen“. Wenig später kommt die Ansage, dass der Verleger mich sprechen möchte – wegen des Berichts über die Lebenshilfe. Ich spüre, dass das nicht alltäglich ist, was da gerade passiert. Mir rutscht das Herz in Hose. Junger Volontär – mächtig Ärger? – frage ich mich. Im Büro von Herrn Risius angekommen, spricht er mich freundlich an. Er habe gelesen, was ich über den Termin bei der Lebenshilfe geschrieben habe. Ihn würde interessieren, warum ich das so geschrieben hätte und wieso ich so deutliche Worte gefunden habe. Ich bin nervös und fange an zu erzählen. Es wird ein Monolog. Auch wenn es sicherlich nicht so gemeint war, ich meinte, mich rechtfertigen zu müssen. Als ich dann mit meinen Erzählungen fertig bin, sagt Herr Risius als erstes „Danke, Herr Hartwig“. Er macht eine Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Dann schaut er mich an und sagt: „Ich habe mit einem meiner Freunde gesprochen, der selbst jemanden aus seiner Familie bei der Lebenshilfe betreuen lässt. Er hat mir gesagt: Ihr Redakteur hat recht. Es sei völlig in Ordnung, dass das mal so geschrieben werde.“ Die plumpsenden Steine, die von meinem Herzen gefallen sind, dürften alle im gesamten Verlagshaus gehört haben. Und dann sagt der Verleger noch etwas, was mir in meinem weiteren journalistischen Leben immer wieder Kraft gegeben hat, wenn ich eine schwierige Entscheidung treffen musste. „Herr Hartwig, Sie haben gut gearbeitet. Sie haben das gemacht, was einen guten Redakteur auszeichnet. Bleiben Sie mutig. Schreiben Sie das, was Sie für richtig halten.“ Wir sprechen dann noch ein wenig, weil er mir berichtet, dass der Grund für unser Gespräch ein mehrseitiger, an ihn persönlich gerichteter Brief der damaligen Vorsitzenden der Lebenshilfe, Helene Junker, war. Sie hatte in Frage gestellt, inwieweit der Verlag und die Zeitung weiterhin hinter der Integrationsarbeit der Lebenshilfe stehen. Wie er darauf nun antworte, wisse er noch nicht. Was er letztlich an Frau Junker geschrieben hat, weiß ich wiederum nicht.

Mit Erleichterung und der Erkenntnis, dass es wichtig ist, dass Verleger und Chefredakteure – Dr. Faupel hatte meinen Text zur Veröffentlichung freigegeben – hinter einem stehen, gehe ich in die Redaktion zurück.

Es wird nur wenige Jahre dauern, bis ich als Redaktionschef für die Arbeit meiner Redakteure und die Ausbildung von Volontären verantwortlich bin. Den Satz „Bleiben Sie mutig. Schreiben Sie das, was Sie für richtig halten“ werde ich dabei oft zitieren. Und bis heute – über 30 Jahre danach – darf ich sagen: Ich habe bisher alle Themen so aufgegriffen, wie sie sich mir darstellen und dann, wenn es sein musste, auch sehr deutliche Worte geschrieben. Selbst wenn ich wusste, dass es Ärger geben könnte (und auch gab), weil „Kräfte“ versuchten, Druck auf mich, die Geschäftsführung oder auch mein privates Umfeld auszuüben.

Ach ja, die Umstände waren bei der Lebenshilfe insgesamt in diesen Jahren bemerkenswert. So mancher Zivildienstleistender könnte berichten über „nächtliche Ausflüge“ von Teilen des damaligen Vorstands (ohne Frau Junker, die wurde bewusst zuvor in Bunde zuhause abgesetzt) oder Spezialaufträge, z.B. das Abholen eines Jagdgewehrs für einen der drei Geschäftsführer aus einem Waffenladen in Emden. Erst mit einem neuen Vorstand nach dem Skandal um die Gehälter der dann freigestellten Geschäftsführer Volker Janssen, Manfred Smid und Jan Vogelsang wurden die Zeiten anders.


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    Holger HartwigPlatte Nasen bei der Lebenshilfe