Kennen Sie den Begriff „Familienbewusstsein“? Wenn Sie im Internet danach suchen, dann steht dieser Begriff zumeist im Zusammenhang mit Personalpolitik in Unternehmen, vorzugsweise in familiengeführten Betrieben. Der Begriff lässt sich auch aus einem völlig anderen Blick betrachten: das Bewusstsein einer oder in einer Familie.
Was ist damit gemeint? Schauen wir auf die Adelshäuser dieser Welt. Ihnen wird bildlich nachgesagt, dass in ihren Adern blaues Blut fließt. Das ist natürlich Quatsch. Was die Mitglieder einer „von und zu“-Familie auszeichnet, ist das Selbstverständnis. Es wird von Generation zu Generation bewusst und vor allem auch unbewusst weitertransportiert. Ein Adliger strahlt seinen Anspruch auf Besonderheit aus, er agiert vorzugsweise unter seines Gleichen. Für ihn ist im tiefsten Innern ein „Standesdünkel“ selbstverständlich, auch wenn er sich situativ seiner Umgebung anpassen kann. Er hat in den meisten Fällen ein Familien(selbst)bewusstsein, dass Kraft und positives Denken geben. Er ist fokussiert auf die schönen Dinge des Lebens und ist überzeugt von den Möglichkeiten in der Zukunft.
Nehmen wir als Gegenstück eine Familie, die während oder in Folge des 2. Weltkrieges alles verloren hat. Vertrieben worden zu sein, ist für diese Familien einschneidend. In der neuen Heimat warteten viele existenzielle Herausforderungen. Das Denken ist geprägt durch den Verlust und durch die meist negativen Erzählungen von Oma und Opa. Das neue Umfeld, dass diese Familie nun hatte, ist nicht besonders aufbauend. Die Konsequenz: Das Bewusstsein bzw. das Unterbewusstsein in dieser Familie wird geprägt sein durch die negativen Erfahrungen. Erfahrungen des Verlustes, Erfahrungen des als Vertriebene „weniger Wert sein“. Dazu kommt Misstrauen und vieles, was gut läuft, wird in Relation gesetzt und oft kommt eine latente (auch unbewusste) Zukunftsangst dazu. Was meinen Sie: Welches Bewusstsein wird hier bewusst und vor allem unbewusst in die nächste Generation transportiert? Und was passiert, wenn die nächste Generation eine kleine, erste negative Erfahrung macht, wenn in der Schule eine „blöde Bemerkung“ zu dem Flüchtlingskind kommt? Kurzum: Das Bewusstsein wird weiter gefestigt. Tendenziell findet eine Fokussierung auf das Negative statt, das sich und alles In-Frage stellen.
Als drittes Beispiel nehmen wir eine Unternehmerfamilie und im Gegenzug dazu eine Familie, in der der Sicherheitsgedanke eine große Rolle spielt (nicht negativ gemeint, z.B. eine Beamtenfamilie). Was meinen Sie, wie sich hier das Familienbewusstsein ausdrückt, wenn die nächste Generation eine Idee für eine Selbstständigkeit hat? Was glauben Sie, wo mehr Zuspruch und Unterstützung statt Risikoabwägung zu erwarten sind? Auch hier gilt: Familienbewusstsein und Umfeld prägen. Oder Sie sind in einer Familie groß geworden, wo es über Generationen die Rolle war, als Knecht oder Diener zu arbeiten. Was meinen Sie: Ist es für die nächste Generation dann einfacher, wieder eine solche Aufgabe zu übernehmen und sich dem (gewohnten) Umfeld anzupassen oder Karriere zu machen, Führungsverantwortung zu übernehmen? Was meinen Sie, wie wird hier das Familienumfeld bewusst und unbewusst agieren?
Ja und dann ist da noch die Konstellation mit den „schwarzen Schafen“ in der Familie. Jeder kennt diese Betrachtungsweise. Das „schwarze Schaf“ ist der- oder diejenige in einer Familie, der „anders“ ist, alternative Wege geht oder neue Sichtweisen hat. Meist ist sich der übrige Teil der Familie einig in der Bewertung dieses „Sonderlings“. Und dabei geht es keineswegs um Straftaten, sondern eben auch um das Selbstverständnis („Das macht ein Müller/Meyer/Schulze aber nicht so…“) und damit das Familienbewusstsein.
Sie halten diese Gedanken zum Familienbewusstsein für Unsinn? Dann ist es – wie so oft – die deutsche Sprache, die weiterhilft. Oder warum heißt es – wenn ein Mensch ein (Selbst)bewusstsein oder Verhalten an den Tag legt, das ihn kennzeichnet – „Das hat er mit der Muttermilch aufgesaugt“? In der Muttermilch sind charakterliche Eigenschaften und Verhaltensweisen jedenfalls nicht stofflich nachweisbar…
Kurzum: Sich zu fragen, wie ein Familienbewusstsein in meiner Familie aussehen könnte und was es für Besonderheiten mit sich bringen könnte, kann Antworten auf vieles geben, was im eigenen Leben selbstverständlich ist. Es kann Antworten geben, warum sich Verhaltens- und Denkweisen wiederholen. Es kann aufzeigen, warum im Denken das Glas immer halbleer statt halbvoll ist und warum aus einer Mücke gerne ein Elefant gemacht wird. Und es wird helfen, auf wiederkehrende Phänomene Antworten zu finden und neue Wege zu gehen. Und wenn es „nur“ die Erkenntnis für den Alltag ist, dass die unbewusste Fokussierung auf negatives Denken seine Wurzeln in der Familienstruktur hat.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.