Von Holger Hartwig*
Haben Sie sich schon einmal diese Frage gestellt: Wie wertvoll ist die Arbeitsstunde eines Chefarztes in einer Klinik und im Vergleich dazu die eines Arbeiters am Fließband in einer Fabrik? Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber definieren den Wert – wie jüngst oft geschehen durch den Abschluss von Tarifvereinbarungen in Zeiten von Inflation und Engiekriese – über den Wert der Leistung und legen einen entsprechenden Stundenlohn fest. Folgt man diesem Gedanken, ist folglich die Arbeitsstunde des Chefarztes zehn- bis zwangigmal soviel wert wie die des Arbeiters. Dennoch ist diese Antwort falsch. Beide Arbeitsstunden haben exakt den gleichen Wert. Warum?
Stellen Sie sich einmal vor, der Chefarzt möchte eine schwierige Operation vornehmen. Seine Mitarbeitenden schalten im OP alles ein – und müssen feststellen, dass eine der Lampen, die den OP-Tisch ausleuchtet und erst gestern ausgetauscht wurden, nicht funktioniert. Was das bedeutet? Die Operation kann nicht ausgeführt werden. Zweitens und viel wichtiger: Diese konstruierte, aber nicht unrealistische Situation macht deutlich, dass am Ende die Handgriffe des Arbeiters am Fließband genauso wertvoll sind, wie die des Chefarztes. Macht der Fließband-Arbeiter seine Aufgabe nicht korrekt, fehlt dem Operateur ein wichtiges Hilfsmittel. Beide Arbeitsstunden haben den gleichen Wert – das, was sie unterscheidet, ist lediglich der Stundenlohn, den die Gesellschaft der Leistung jeweils zugesteht.
Warum es wichtig ist, sich bewusst zu werden, dass Arbeit immer gleich wertvoll ist? Aus zwei Gründen. Zum einen ist es gut, wenn sich diejenigen, die viel für ihre Leistung bekommen, immer bewusst sind, dass ganz viele Rädchen ineinandergreifen müssen, damit sie ihre besser entlohnte Arbeit ausführen können. Oder anders ausgedrückt: Ein Chef(arzt) kann nur Chef sein, wenn er viele Mitstreiter für seine Arbeit hat. So zu denken, verschafft den nötigen Respekt gegenüber jedem Mitarbeiter, jeder Arbeit oder jeder Dienstleistung.
Zum anderen ist es wichtig, dass sich niemand einzig und allein über seinen Stundenlohn definiert und sich dadurch möglicherweise „minderwertiger“ fühlt. Jede Arbeit hat den gleichen Wert für die Gesellschaft – und jeder darf, kann und soll seinen Anteil tragen, dass das Leben im Miteinander und der Aufgabenteilung nach Qualifikation und Leistungsfähigkeit erfolgt.
Zum Abschluss noch ein Dialog zwischen einem kleinen Jungen und seinem Vater, der verdeutlicht, wie wichtig es ist, immer den nötigen Respekt vor jeder Arbeit zu haben. Der Junge kommt aus der Schule nach Hause und berichtet beim Mittagessen von seinem Tag. Der Lehrer habe ihn gefragt, was sein Vater von Beruf ist. Er erzählt, dass er voller Stolz geantwortet habe, dass sein Vater der Chef in einer großen Firma sei und ganz vielen Mitarbeitenden vorschreibe, was sie für ihn zu machen haben. Der Vater nimmt sich seinen Sohn zur Seite: „Mein lieber Sohn, es ist schön, dass Du voller Stolz von mir erzählst. Aber bei allem Stolz sei Dir bitte über eines klar: Dein Vater kann eine Firma leiten, aber er kann weder das Haus bauen, in dem wir leben. Er kann auch nicht das Brot backen, das wir essen. Und er ist auch froh, dass es Menschen gibt, die unseren Müll zuverlässig abholen und entsorgen.“ Der Junge begriff schnell – und hat bis heute den notwendigen Respekt vor jedem Menschen und dem, was dieser macht. Ganz unabhängig, ob er für eine Stunde Arbeit „richtig viel Schotter“ bekommt oder „nur“ den gesetzlichen Mindestlohn,
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.