Von Holger Hartwig*
Jeder wird sich an diese Situation in seiner Schulzeit erinnern: Die nächste Klassenarbeit steht an und es stellt sich die Frage, was denn wohl an Inhalten abgefragt wird. Man wiederholt das eine oder andere – und dann gibt es Themen, bei denen man nicht so „sattelfest“ ist. Sofort kommt zu der aufkommenden Unsicherheit bzw. Angst der passende Gedanke als „Beruhigungspille“: Das wird schon nicht dran kommen… Die Konsequenz: Statt sich den entsprechenden Fragen zu stellen, wird ausgewichen bzw. gedanklich davor weg gelaufen.
Das Verhalten ähnelt dabei dem Vorgehen von Kühen, wenn der Sturm anrauscht. Statt sich dem Wind zu stellen, laufen sie vor dem Wind davon. Irgendwann ist der Sturm dann doch schneller, sie sind von dem Davonlaufen erschöpft und es „erwischt“ sie richtig. Die cleveren Tiere erkennen: „Augen zu (oder auf) und durch“, stellen sich dem Sturm und bringen es hinter sich.
Zurück zu der Prüfungssituation und der „Beruhigungspille“. Natürlich weiß jeder Schüler, dass diese Denkweise ein Spiel mit dem Feuer ist. Natürlich weiß jeder Schüler, dass es ein Wegdrücken der Angst und natürlich hat auch jeder die Erfahrung gemacht, dass es mit dem „Das wird schon nicht drankommen…“ immer wieder gründlich daneben gegangen ist. In dem Moment, als zu Beginn der Klassenarbeit die Fragen vorlagen und die „brisanten“ Themen darin zu lesen waren, war es um die gute Note bereits geschehen. Nervosität, ja Panik „regierte“ vom ersten Moment an, der kühle Kopf war selbst bei den bekannten Inhalten dahin. Meist ging dann nichts mehr…
Welche Möglichkeiten gibt es, sich für die Herausforderungen, die einem im tiefsten Bewusstsein klar sind und Angst machen, besser zu rüsten? Der einfachste Weg: Dem Thema stellen statt auszuweichen. Wenn das nur so einfach wäre…
Es ist einige Jahrzehnte her, dass der Autor vor den Abiturprüfungen stand und die Vornoten alles andere als prickelnd war. Der Versuch mit „Das kommt schon nicht dran…“ war zum Scheitern verurteilt, denn die Lücken waren zu groß, die Nervosität schon Wochen vorher auch. Klar war: Die Prüfungen waren nur zu bestehen, wenn es gelingt, sich – wie die cleveren Tiere – in den Wind zu stellen statt mit dem Versuch zu scheitern, davon zu laufen.
Gemeinsam mit einem Coach ging es an zwei Herausforderungen. Erstens, die Panik vor dem drohenden Scheitern zu reduzieren und zu begreifen, dass es gelingen muss, immer mit kühlem Kopf weiter zu agieren und das Beste darauf zu machen. Zweitens, möglichst vielen der „Schwachstellen“ bei den Lerninhalten weit vor der Abiprüfung „in die Augen zu schauen“ und sie rechtzeitig abzuarbeiten (soweit das noch möglich war). In Kombination eine wahrlich große Herausforderung…
Die Lösung, die der Coach präsentierte, war verblüffend einfach. Sein Auftrag an mich in den zwölf Wochen vor den Prüfungen lautete:
„Stellen Sie sich jeden Abend vor, dass Sie morgens wach werden und in den Tag der Abiklausur starten. Nur: An diesem Morgen geht alles schief, was nur schief gehen kann. Der Wecker klingelt nicht, in den Reifen des Fahrrades ist keine Luft und und und. Irgendwann sitzen Sie dann in der Prüfung und fangen an, die Aufgabe zu lesen. Natürlich nur Inhalte, bei denen Sie feststellen, dass Sie bei diesen noch nicht sattelfest sind. Die Gedanken sollte immer enden mit: Ich habe jegliche Ruhe verloren, das Wissen, was ich im Kopf hatte, aufgrund der Panik nicht abrufen können und gebe nach sechs Stunden einen fast leeren Zettel ab. Kurzum: Eine Vollkatastrophe.
Das Szenario, was alles passieren könnte, sollte jeden Abend variieren, damit wirklich alle Möglichkeiten, die am Prüfungstag geschehen könnten „durchgespielt“ werden. Nachdem ich dann dieses „Schreckenszenario“ durchgespielt hätte, sollte ich mir einen Zettel nehmen und mir Notizen machen, welche „Katastrophenfragen“ denn in der Klausur gestellt wurden, mit der Aufgabe, mir diese am nächsten Tag „vorzunehmen“.
Ich erinnere mich noch gut daran, was ich gedacht habe: Das soll etwas bringen? Und meint der Coach, dass ich nach diesen Vorstellungen ruhig einschlafen könnte?
Dann jedoch kam Teil 2 der Aufgabe. Vor dem Einschlafen sollte ich mir vorstellen, dass alles wie „geschnitten Brot“ läuft und ich alles so meistere, dass ich das Abitur bald in der Tasche habe würde.
Beruhigt hat mich das nicht, bis der Coach mit dann erklärte, was die Ziele dieser Übung sind:
- Mögliche „gefährliche“ Fragestellungen erkennen, diesen nicht aus dem Weg zu gehen und zu bearbeiten, bevor sie mich in der Prüfung kalt erwischen.
- Ich sollte mir bewusst werden, dass es – egal, was immer auch passieren würde – darum geht, die Ruhe zu bewahren. Ich sollte mir bewusst werden, dass die Devise sein muss, sich jeder Situation zu stellen, statt in Panik davonzulaufen. Nur dann gelinge es, keinen leeren Zettel abzugeben.
Ich habe mich auf dieses Gedankenspiel eingelassen. Eine andere Wahl blieb mir auch nicht, da mir meine Schwächen und der Hang zur Prüfungspanik durchaus bewusst waren. Wochenlang habe ich jeden Abend die beiden Szenarien durchgespielt und bin heute noch überrascht, welche Varianten möglicher Katastrophen mir Abend für Abend eingefallen sind. Ebenso war es auch bei den Prüfungsinhalten.
Als die Prüfungen anstanden, ist morgens natürlich nicht alles glatt gelaufen und es standen auf Prüfungsfrage auf dem Zettel, die mir nicht gefielen und die ich nicht beantworten konnte. Was das bedeutete? Ohne die gezielten Übungen wäre es eine Katastrophe mit einem wahrscheinlich leeren Zettel oder wenige brauchbaren Antworten geworden. Durch die Übungen war mir bewusst: Ruhe bewahren, das Beste daraus machen, dem Gegenwind stellen.
Ich habe das Abitur geschafft. Nicht mit besonders gutem Ergebnis – aber das war angesichts der Vornoten auch nicht zu erwarten. Hauptsache geschafft.
Bis heute wende ich die „Szenarien“-Methode bei Herausforderungen immer wieder an, damit mich nichts kalt erwischt, ich mich gut vorbereitet fühle und dann – fast immer – in der tatsächlichen Situation eine Antwort finde, weil sie irgendwo durch die Übungen so oder ähnlich „versteckt“ ist.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.