Rücksicht – Nachsicht – Einsicht – Weitsicht und Vorsicht

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Von Holger Hartwig*

Wer das Radio einschaltet, der kann sich manches Mal nur an den Kopf packen, wenn er die Textzeilen deutscher Schlager hört. „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“ – das ist sowas von sinnig. Wie soll ein Zug nach nirgendwo fahren, wo doch jedes Kind weiß, dass Züge nur auf ausgelegten Gleisen unterwegs sind. Aber gut, es geht in dem Song ums Fremdgehen. Kein so schönes Thema – da kommt ein Schlagertexter wohl auf so etwas.

Manchmal gibt es aber auch Schlager, die mit Textpassagen zum Nachdenken anregen. Eine solche Passage haben 1983 Hoffmann & Hoffmann als deutsche Vertreter beim Grand Prix gesungen. Zwar konnten sie den Vorjahrserfolg von Nicole – sie siegte mit „Ein bisschen Frieden“ – nicht ansatzweise wiederholen, doch die sechs Textzeilen sind es wert, genauer betrachtet zu werden:

Rücksicht, keiner hat das Wort gekannt und
Nachsicht, die keiner bei dem andern fand und
Vorsicht, dass nie zerbricht, was uns verband
Einsicht, dass jeder seine Fehler hat und
Weitsicht, das Leben findet nicht nur heute statt und
Vorsicht, dass man den andern nicht zerbricht

Rücksicht – Nachsicht – Einsicht – Weitsicht und Vorsicht haben dabei eine Gemeinsamkeit: Es geht um das Sehen. Es geht um die „Sicht“ bzw. die „Sicht“-weise auf die Situationen des Lebens.

Im menschlichen Miteinander ist es eine der wesentlichsten Fähigkeiten, die Perspektive des Mitmenschen einnehmen zu können. Wer die Welt um sich herum sehend betrachtet, statt nur bei sich zu sein, der bekommt nicht nur einen besseren „Durchblick“, sondern eben auch andere, neue, befruchtende „Sicht“-Weisen. Diese Sichtmöglichkeiten sind es, die ein funktionierendes Miteinander und ein Verständnis füreinander erst ermöglichen.

Wer hingegen dauerhaft auf Rücksicht – Nachsicht – Einsicht – Weitsicht – Vorsicht im Alltag verzichtet, weil es vielleicht zu anstrengend ist, der „vernebelt“ sich sein Leben. Was das bedeutet? Stellen Sie sich vor, dass Sie in einem tiefen Nebel stehen. Ihre „Sicht“-Weite ist auf wenige Meter reduziert. Alles um Sie herum lässt dann Klarheit, Details und Konturen vermissen. So wie es halt im Nebel ist. Ganz zu schweigen davon, dass Sie sich auch nur schwer orientieren können. Sie können dann nur hoffen, dass ein anderer kommt, der sie aus dem Nebel herausholt und ihnen wieder freie „Sicht“ auf das Leben verschafft. Was muss dieser „Jemand“ mitbringen? Die Fähigkeit, ihre Situation bzw. ihre Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen – mit Rücksicht – Nachsicht – Einsicht – Weitsicht und Vorsicht.

Wer einmal reinhören mag – hier der Link zum Song von Hoffmann & Hoffmann.

https://www.youtube.com/watch?v=4NwvPojL02g

* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.

Holger HartwigRücksicht – Nachsicht – Einsicht – Weitsicht und Vorsicht