Von Holger Hartwig*
Es ist ein Phänomen, dass vermehrt bei Menschen auftritt, die ein langes Arbeitsleben hinter sich haben. Sie sollen die Zeit als Rentner genießen. Doch – so sagen es sehr viele selbst von sich – sie haben so gut wie nie Zeit und fühlen sich oft im Stress. Dabei ist die „Belastung“ meist nicht im Ansatz vergleichbar mit den vielen Aufgaben und Aktivitäten aus der aktiven Arbeitsphase.Wie ist das zu erklären?
Das ist ganz einfach. Es reicht eine Beobachtung aus Gespräche mit Rentnern. Wenn ein Rentner heute beispielsweise von seinem Sohn oder der Enkelin gefragt wird „Was hast Du heute oder die nächsten Tage so vor?“, dann kommt eine meist ausführliche Antwort. Original-Zitat: „Ich muss heute noch einkaufen, später zur Post und heute nachmittag erst zur Bank und dann sind wir noch zum Tee bei Annemarie und Johannes. Heute Abend ist dann noch etwas beim Sportverein.“
In der Tat, das klingt im ersten Moment nach vielen Terminen und richtig Stress. Doch das Erstaunliche daran ist, dass diese Aufzählung erst als Antwort auf die „Was hast Du heute vor?-Frage“ im Rentenalter kommt. Wer im Berufsleben aktiv ist, für den sind Einkaufen, Post, Bank etc. Aufgaben, die nebenbei im Tagesablauf irgendwann erledigt werden. Daraus einen „Termin“ mit Bedeutung zu machen, kommt einem nicht in den Sinn.
Wenn also – wie beschrieben – mit dem Übergang in das Rentenalter aus Alltagsaufgaben unbewusst Termine werden, ist die Konsequenz: Zeitdruck und manches Mal auch Stress, der das Leben alles andere als leichter macht. Die Lösung ist ganz einfach: Es lohnt sich, dieser beschriebenen Verschiebung bewusst zu werden und sich klar zu machen, dass „früher“ vieles nebenbei erledigt wurde. Bank, Einkaufen und Tee trinken waren und sind keine „Termine“, die zu Stress „berechtigen“.
Apropos älter werden oder alt sein: Auch Menschen im fortgeschrittenen Alter können natürlich flexibel und aktiv sein. Keineswegs ist der beschriebene „Stress“ als Vorwurf zu verstehen. Alt ist keine Frage des Geburtsdatums, sondern vielmehr des Denkens und Handelns. Dabei ist ein Aspekt wesentlich: die Neugier. Wer neugierig auf das Leben, Erlebnisse, Erfahrungen bleibt, offen für Veränderungen ist und jeden Tag dazulernen will, der bleibt jung – und der hat dann mit Herausforderungen jeglicher Art, die weit über Post, Bank oder Einkaufen hinausgehen, seinen ganz persönlichen „positiven Stress“.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.