Der „berittene“ Geldbote

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Es sind die wilden Jahre direkt nach der Wende. Viele Verleger aus dem Westen haben sich aufgemacht, im Osten neue Zeitungen zu gründen – vor allem mit lokalen Inhalten. Das, was in der alten Bundesrepublik landauf landab gut funktioniert, sollte auch in der ehemaligen DDR wirtschaftlich erfolgreich sein können. Zumal die zentralisierte DDR-Presse nicht den besten Ruf genießt.

Es kommt jedoch anders. Die Leser „fliegen“ Ende 1990/Anfang 1991 keinesfalls den neuen, mit freiem Journalismus konzipierten und mit unbelasteten Redakteuren arbeitenden Neugründungen zu – nein, sie verharren bei den Bezirkszeitungen, die ab Mitte 1991 auch noch für sehr viele Millionen DM von der Treuhandanstalt an westliche Großverlage verkauft werden. Doch selbst wenn das Geschäft der Neugründungen – auch Anzeigen, die die Zeitungen mitfinanzieren, gibt es wenig, da die neue Wirtschaft erst entsteht – sich als äußert schwierig gestaltet, so schnell wird nicht aufgegeben. Das gilt auch für den „Wolgaster Anzeiger“, der vor den Toren Usedoms als neue Zeitung erscheint und sogar auf die Tradition einer Lokalzeitung zurückgreifen kann, die bis zur Zwangseinstellung der Nationalsozialisten in der Region erfolgreich war.

Eine junge, motivierte Mannschaft hängt sich voll rein, gibt nicht auf – selbst als die Gehaltszahlungen nur noch schleppend erfolgen. Journalismus ist in diesen Zeiten ein großes Abenteuer, (Skandal)Geschichten gibt es zu genüge, da vieles aus der Zeit des Sozialismus noch nicht aufgearbeitet wurde. In Wolgast wird um das Weiterleben der Zeitung „gekämpft“ und lange Zeit ist die Hoffnung, dass die Gespräche mit Investoren – ein Verlag aus Hamburg ist im Rennen – erfolgreich verlaufen. Wie „ernst“ die Lage ist, ist den über 30 Mitarbeitern nicht bewusst. Sie leben damit, dass das Geld nicht rechtzeitig auf ihrem Konto ist, dem Engagement tut das keinen Abbruch. Die Tage sind lang – und die Begeisterung für das Zeitungsmachen nachhaltig gegeben.

Ich bin etwas stärker „eingeweiht“ in die Zusammenhänge, aber die wirklichen Schwierigkeiten sind mir nicht bewusst bzw. nicht bekannt (später ist das ein Grund, warum ich Betriebswirtschaft studiere. Dass es „Spitz auf Knopf“ steht, wird mir mit meinen 22 Jahren und der Unerfahrenheit an einem Freitag im Juli 1992 so richtig bewusst. Es trudelt ein Fax ein, das mir in die Hände fällt. Daraus ist ersichtlich, dass die Druckerei in Potsdam nur noch dann die Maschine für unsere Zeitungen anwirft, wenn per Vorkasse bezahlt wird. Ein Unternehmensberater hat das geregelt und er erstellt auch immer die „Finanzpläne“. Ich schaue mir die Daten mit Interesse an – und sehe, dass der Experte sich verrechnet hat. Die Prüfung durch den Geschäftsführer bestätigt meinen Verdacht: Wenn nicht an diesem Tag noch ein gedeckter Scheck oder eine Summe in Bar nach Potsdam geht, dann wird morgen die letzte Ausgabe erscheinen und die – damals beste Einnahmequelle wegen der Anzeigen, die Sonntagsausgabe – wird nicht mehr erscheinen. Es wird hektisch. Was in den Stunden darauf passiert, ist mir nicht im Detail bekannt. Gegen 16 Uhr klingelt dann das Telefon bei mir in der Redaktion. Ich soll mal zum Geschäftsführer kommen. Dort wartet ein Spezialauftrag. Zitat: „Holger, hier ist ein Scheck, dessen Deckung aus Potsdam geprüft wurde. Du musst bis spätestens 20 Uhr beim Verlag in Potsdam sein. So lange wartet die Geschäftsführung dort auf Dich.“ Ich frage: Und wenn ich es nicht bis dann schaffe, da es ja etwa 300 Kilometer sind (die Straßen sind damals noch nicht so ausgebaut wie heute…) bis 20 Uhr in Potsdam zu sein? Antwort: „Dann gibt es am Sonntag und wohl auch danach keine Zeitung mehr.“ Klare Ansage. Ich gehe noch kurz in die Redaktion und sage, dass ich einen dringenden Termin habe und dann ab ins Auto. Ab der Hälfte der Strecke fängt es wie aus Eimern an zu regnen. Immer wieder geht mein Blick auf die Uhr und die noch zu fahrenden Kilometer. Nur gut, dass es in dieser Zeit noch nicht so viele „teure Fotoapparate“ am Straßenrand gibt. Die Zeit rennt, es wird knapp. Erst um 19.45 Uhr bin ich in Potsdam und melde mich bei dem Pförtner. „Ich muss zur Geschäftsführung.“ Wenig später stehe ich dann im Büro der Chefetage. Zwei Herren in feinen Anzügen erwarten mich. „Na, da sind Sie ja gerade noch rechtzeitig“. Ich übergebe den Umschlag, der eine öffnet ihn, schaut drauf und greift zum Telefonhörer. „Jungs, alles klar, Ihr könnte die Druckmaschine für die Zeitungen aus Wolgast heute und in den nächsten Tagen anwerfen“, sagt er offenbar zum Leiter der Druckerei. Dann wünschen mir beide eine gute Rückfahrt Richtung Usedom. Der „berittene Geldbote“ hat seinen Job erfüllt…

Es dauert noch bis Ende August 1992, ehe die erste Entlassungswelle in Wolgast folgt und der Traum von der unabhängigen lokalen Tageszeitung ist ausgeträumt. Ein kleines Team, dem ich nicht mehr angehöre, macht noch bis Mitte 1993 eine Wochenzeitung weiter, dann geht der gesamte Verlag endgültig in die Insolvenz. Bis heute hat diese Zeit Spuren hinterlassen und der Tag als Geldbote bleibt unvergessen (wie vieles andere auch).

Die damals gemachten Erfahrungen prägen mich bis heute. So frage ich bei Seminaren für Volontäre in Medienhäusern gerne, was guten Journalismus auszeichnet. Die Antworten sind meist sehr ähnlich: inhaltlich korrekt, sachlich, fair, hintergründig, kritisch etc. Noch kein einziges Mal ist die Antwort gekommen, die die wichtigste Voraussetzung für alle diese lobenden Eigenschaften ist. Denn guten Journalismus muss vor allem eines auszeichnen:  Er muss wirtschaftlich erfolgreich sein. Denn wenn mit den (seriösen) Inhalten nicht ausreichend Geld verdient wird, werden die Inhalte am Ende entweder reißerisch mit Boulevard-Einschlag (jeder Klick im Internet-Zeitalter zählt ;-)) oder die Redakteure verlieren ihren Job…


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    Holger HartwigDer „berittene“ Geldbote