„Antisemitismus? Bedrückend und nie gedacht, dass es auch im Kreis Leer in dieser Intensität dazu kommt“

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„Auf einen Tee mit …“ – Heute mit Wolfgang Kellner, Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland

LEER Die meisten Leeraner werden ihn aus seiner Zeit als Bürgermeister kennen: Wolfgang Kellner. Seit der heute 75-Jährige nach 13 Jahren im Amt als Stadtoberhaupt 2014 ausgeschieden ist, hat sich Kellner keineswegs zur Ruhe gesetzt. Ob als Buchautor (z.B. Hitlers Helfer in Leer) oder als Vorsitzender des Trägervereins von Radio Ostfriesland und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland (GFCJZ) – Kellner engagiert sich, bringt sich ehrenamtlich ein. In der Rubrik spricht der begeisterte Segler über die Arbeit der GFCJZ in Zeiten wachsendenden Antisemitismus auch in Ostfriesland.

Den Vorsitz der GFCJZ habe ich übernommen, weil…

…ich mich gesellschaftspolitisch engagieren will – vor allem aus der historischen Verantwortung heraus. Zuvor war ich viele Jahre bereits Mitglied.

 Mein bewegendster Moment als Vorsitzender ist…

… immer dann, wenn es möglich ist, Zeitzeugen zu treffen. Zuletzt war es der hochbetagte Albrecht Weinberg, der an die Vergangenheit, den Umgang mit seiner Familie in Leer und Westrhauderfehn erinnert und daraus Lehren für die Gegenwart zieht.

Die größte Herausforderung ist für mich…

… immer wieder Menschen zum Mitmachen zu motivieren und den Verein lebendig zu halten. Natürlich geht es auch darum, immer wieder Spenden zu sammeln, damit wir als Verein aktiv bleiben können.

Mit Blick auf die aktuelle Situation in Israel mit dem Kampf gegen die Hamas ist es …

… für uns Deutsche wichtig, Flagge zu zeigen und auf der richtigen Seite – nämlich auf der Seite Israels – zu stehen. In Israel leben auch Familien aus Leer, die geflohen sind und die NS-Zeit überlebt haben. Deren Enkel und Urenkel müssen heute in den Krieg ziehen, weil wieder Judenhasser die Juden vernichten wollen. Dagegen sich zu positionieren, ist die derzeitige Hauptaufgabe.

Wenn ich die pro-palästinensischen Demonstrationen auf deutschen Straßen sehe, dann…

frage ich mich, ob diese Menschen in ihrem Denken wirklich alles berücksichtigen oder einseitig an das Thema herangehen. Die Lage ist zwar kompliziert, aber das Gemetzel am 7. Oktober an den jüdischen Bürgern kann niemanden in Ruhe lassen und muss verarbeitet werden. Dagegen muss klar Stellung bezogen werden.

 Das Aufleben des Antisemitismus ist für Menschen im Kreis Leer…

… bedrückend und ich hätte vor einigen Jahren nicht gedacht, dass es in dieser Intensität dazu kommt. Es ist um so wichtiger, dass wir zusammenstehen und gegen diese Denk- und Verhaltensweisen mit eindeutiger Stimme auftreten. Es wäre gut, wenn wir als Gesellschaft über das Thema offener reden würden. Wer in die Gesellschaft hineinhört, der erlebt, dass in manchen Kreisen, in denen es nicht zu erwarten ist, antisemitische Denkweisen zu finden sind.

 Wer sagt „Es muss doch auch irgendwann mal Schluss sein mit der Schuld und den Vorwürfen an die Deutschen wegen des Holocaust“, dem antworte ich, dass …

… es ja Gegenwart ist. Alles das passierte in der Generation unserer Eltern oder Großeltern Es ist keine Archäologie. Opfer und Täter lebten nicht vor 1000 Jahren. Wir müssen weiter daran arbeiten und dafür sorgen, dass diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät und Lehren für jetzt daraus ziehen.

 Einen Landesverband zu gründen ist…

…  wichtig, um auch auf Landesebene mit einer Stimme zu sprechen. Es gibt in Niedersachsen insgesamt elf Gesellschaften, die sich wie wir für eine Erinnerungskultur und für den Dialog zwischen Juden und Christen engagieren.  Wir hoffen, dass wir mit Hilfe der Landesregierung uns dann auch insgesamt finanziell stärker aufstellen können. Erinnerungsarbeit ist mit Kosten verbunden, beispielsweise, wenn wir im nächsten Jahr mit der Ehemaligen Jüdischen Schule in Leer eine Ausstellung zu jüdischen Spitzensportlern realisieren wollen.

 Wenn in der Region ein Stolperstein verlegt wird, dann…

… ist das ein gute Sache, denn dann wird auch in diesen Orten darüber gesprochen, dass es eine jüdische Bevölkerung gab. In der Stadt Leer haben wir Potenzial für etwa 200 weitere Steine.

 Der Gedenkort Jüdische Schule in Leer ist…

… ein wichtiger Anlaufpunkt zur Erinnerung und als Lern- und Lehrort. Ich bin froh, dass es damals im Zusammenspiel der Stadt Leer mit dem Landkreis Leer gelungen ist, dieses Gebäude zu erwerben

 Meine Bücher über „Hitlers Helfer in Leer“ und das „Vergiftete Denken“ des Bernhard Bavink habe ich geschrieben, weil …

… ich das Bedürfnis hatte, aufzuklären und für die heutige Zeit zu schreiben. Die Themen sind historisch, aber bis heute aktuell. Bei der Bavinkstraße wäre es konsequent, die Straße umzubenennen. Über den beschlossenen Begleittext, der an das Straßenschild kommt, kann man streiten. Er ist nach meiner Meinung in Teilen irreführend. In Zusammenhang mit dem Buch zu Hitlers Helfern in Leer erinnere ich mich an eine Veranstaltung im Rathaussaal, wo Kinder und Enkelkinder von Tätern und Opfern vor Ort waren. Vor allem in den Familien der Täter wurde zumeist nicht offen über die Geschehnisse der damaligen Zeit gesprochen und es ist gut, dass es gelingt, die Zusammenhänge aufzuarbeiten und sich darüber auszutauschen.

 Wenn ich an die jahrelange Situation des Grundstückes, auf dem die Synagoge in Leer stand, denke, dann…

… muss wirklich jede mögliche Anstrengung unternommen werden, um diesen Zustand zu beenden. Die Chance, den Zwangsverkauf durch die jüdische Gemeinde im Jahr 1939 rückgängig zu machen und einen Ort des Erinnerns zu schaffen, war rechtlich 1953 gegeben. Dies hat die Stadt seinerzeit nicht getan. Später, als der jetzige Eigentümer das Grundstück erwarb, war dort noch ein aktiver Betrieb und es wird Zeit, dass gemeinsam mit ihm ein Weg gefunden wird.

Wenn ich an meine Zeit als Bürgermeister der Stadt Leer zurückdenke, dann…

… bin ich stolz auf das Erreichte und wie sich Leer heute präsentiert.

Wenn ich heute in eine Partei eintreten wollte, dann…

… wüsste ich im Moment nicht, in welche der demokratischen Parteien.

 Auf meinem Segelboot kann ich…

… total entspannen.

Radio Ostfriesland ist für mich…

… ein tolles Projekt, das als eines der wenigen neben der Ostfriesischen Landschaft ostfrieslandübergreifend funktioniert. Ich bin gern seit Gründung Vorsitzender des Trägervereins.

Mein Lieblingsplatz in Leer ist…

Da gibt es mehrere, da sich die Stadt toll entwickelt hat. Fest steht: Das Wasser muss immer zu sehen sein.

Mein größter Fehler ist …

Ich habe keinen größten Fehler. Das Wichtigste ist: Man sollte aus Fehlern lernen.

Meine größte Stärke ist …

…  kreativ und – wenn es notwendig ist – beharrlich zu sein.

Mein Lebensmotto ist…

Denke nach vorne und sei kreativ – und engagiere Dich für die Allgemeinheit.

Meinen letzten Strafzettel habe ich kassiert als…

 … ich in meiner Zeit als Bürgermeister in Leer falsch geparkt habe und mir meine Mitarbeiter zu Recht den Strafzettel ausstellten.

 Ich kann mich so richtig aufregen, wenn

…  über einige Menschen oder Wohlstandsbürger, die in unserem Land groß und reich geworden sind aber unser Staatswesen verachten und dann eine nationalistische rechte Partei wählen, die die westliche Demokratie und die EU abschaffen will. Dafür fehlt mir jegliches Verständnis.

 Ich kann mich so richtig freuen über …

… Menschen, die sich mit persönlichem Engagement für eine Sache einbringen.

 Wenn ich einen Tag lang Bundeskanzler sein könnte, dann würde ich als Erstes…

… Wladimir Putin anrufen und ihn noch einmal eindringlich dazu auffordern, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Wenn ich drei Wünsche frei habe, dann wünsche ich mir, dass …

…  Hass, Neid und Missgunst aus den Köpfen der Menschen verschwinden, die Beendigung der bewaffneten Konflikte, vor allem auch im Nahen Osten und in der Ukraine, und meine Familie und ich gesund bleiben.

 

Engagiert sich als Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland (GFCJZ): Wolfgang Kellner.

Foto: Privat / M. Tammena

Holger Hartwig„Antisemitismus? Bedrückend und nie gedacht, dass es auch im Kreis Leer in dieser Intensität dazu kommt“