Aufgeschnappt – 6.März 2022

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Von der Bedeutungslosigkeit

Seit über 30 Jahren schreibe ich nahezu täglich Texte. So schwer, wie in der vergangenen Woche, ist es mir noch nie gefallen.

Wen interessiert es, dass …

… bei der CDU-Stadtratsfraktion in Leer die Vorsitzende Ursel Nimmrich ihre Sachen gepackt hat, das Miteinander und Vertrauen zueinander weiter gelitten hat, jetzt planmäßig Dirk Beening nachrücken dürfte, überlegt wird, ob mit einem Klausurwochenende wieder zueinander gefunden wird und er gesamte Vorstand neu gewählt werden soll und dazu nachgedacht wird, wie es auch im Stadtverband künftig inhaltlich und personell vorwärts gehen kann?

Wen interessiert es, dass …

… seit einem Jahr – da habe ich das Thema erstmals öffentlich im Details aufgegriffen – bei den Planungen für das EWE-Gelände seitens des Kreises Leer nichts passiert und die Häuser weiter verrotten?

Wen interessiert es, dass …

… die Stadt Leer nach der angedrohten Klage gegen den Kreis wegen der erhöhten Kreisumlage die Rückendeckung der anderen Kommunen im Kreisgebiet bekommt und nun und die gesamte Erhöhung der Kreisumlage in Frage gestellt wird?

Wen interessiert es, dass …

… es in Leer bald immer weniger preiswerte Wohnungen geben wird?

… und… und … und.

Kurzum: Heute gibt es an dieser Stelle deshalb kein „normales“ Aufgeschnappt. Themen gäbe es auch diese Woche genug. Sie wirken bedeutungslos. Alles ist überlagert von dem, was sich auf dieser Welt gerade verändert. Wir erleben, wie der Krieg zurück in Europa ist. So nah, wie nie zuvor.

Als Kriegsdienstverweigerer – ja, es gab Zeiten, da mussten junge Männer in Deutschland intensiv begründen, warum sie nicht bereit sind, eine Waffe in die Hand zu nehmen – und (Enkel-)Kind einer Vertriebenenfamilie des 2. Weltkrieg ist es unfassbar, was sich gerade verändert. Deutschland rüstet auf, so wie nie zuvor. Deutschland liefert Waffen für Kriege. Die Rhetorik verändert sich. Vieles, was über Jahrzehnte galt, ist mehr als infrage gestellt – bis hin zu dem Ansatz der Bundesregierung, die Rüstung offiziell in das Grundgesetz aufzunehmen. Eine Zeitenwende im Turbotempo!

Was können wir als Bürgerinnen und Bürger tun? Nicht viel. Aber nicht viel ist besser als nichts. Wer kann, der möge Spenden. Wer kann, der möge Flüchtlinge aufnehmen. Und was jeder kann: Geht auf die Straße, steht auf und signalisiert den Menschen in der Ukraine und: Wir wissen, was da gerade passiert. Wir sind bei Euch! Und macht dabei deutlich: Es hat sich gelohnt, dass in unserem Land seit drei Generationen die Freiheit im Denken und Handeln über allem steht! Macht deutlich, dass es eine der wichtigsten Errungenschaften ist, dass wir ein Bildung- und Mediensystem haben, das den Dialog und die Diskussion ohne Denkverbote als oberstes Prinzip hat.

Und noch viel wichtiger: Erzählt Euren Kindern und Enkelkindern, was Euch Eure Großeltern und Eltern aus dem Krieg berichtet haben. Die Bilder aus dem Fernsehen oder Internet ersetzen nicht das, was in der eigenen Familiengeschichte erlebt wurde. Nur wer diese Geschichten kennt, der kann die Bilder aus Ukraine begreifen. Nur der kann auch begreifen, was es bedeutet, wenn – wie in Russland beschlossen – für die Äußerung der eigenen Meinung Gefängnis, Arbeitslager oder sogar der Tod warten.

Ich erinnere mich in diesen Tagen an meine Oma (Jahrgang 1907). Das hilft beim Thema Flüchtlinge. Sie hat mir berichtet, wie es war, als erst die Flucht (dann ging es zurück auf den eigenen Hof, der aber inzwischen von einem Polen geführt wurde) und dann die Vertreibung aus Schlesien nach Ostfriesland anstanden. Sie hat mir berichtet, wie groß die Angst war, getötet zu werden oder meinen Vater – er war gerade einmal zwei Jahre – nicht in eine gesunde Zukunft über tausende Kilometer tragen zu können. So, wie es viele Mütter jetzt quer durch die Ukraine machen müssen.

Sie hat mir auch berichtet, wie schwierig es war, in der neuen Heimat auf einem Hof im Rheiderland als nicht wirklich gern gesehener Gast zurecht zu kommen. Und nicht nur das : Ich selbst habe noch 1977 (!) als kleiner Junge in der Schule erlebt, wie es ist, die Frage gestellt zu bekommen: Wohnst Du nicht in der Flüchtlingssiedlung? Bist du nicht katholisch? Was machst Du dann hier auf dieser Schule? Ich hätte auf die katholische Ludgerischule gehört und nicht auf die Plytenbergschule. Kein Vergleich mit dem, was die, die flüchten müssen, erleben. Aber mir reichte schon diese Erfahrung… Hoffen wir, dass die Frauen und Kinder aus der Ukraine anders aufgenommen werden.

Oder berichten Sie ihren Kindern, wie es war, als der (Groß)-Vater (viel zu wenig) von den grausamen Momenten im Krieg berichtete. Wissen Sie, wie es sich anfühlt, zu realisieren, dass es einen gar nicht geben würde, wenn ein Moment des Krieges anders verlaufen wäre? Mein Großvater hat einfach unfassbares Glück gehabt, als er einen Panzer im Afrika-Feldzug buchstäblich in den Sand gesetzt hat. Er und die Besatzung  mussten aussteigen und laufen. Der Panzer fuhr mit neuem Personal weiter – und 500 Meter weiter flog er in die Luft. Alle, die darin saßen – tot. Es sind diese Erzählungen, die weit wirksamer als jedes Foto in den sozialen Medien oder jeder TV-Beitrag klar machen, was Krieg ist. Einen Krieg, wie ihn gerade über 44 Millionen Ukrainer erleben.

Was macht Hoffnung? Putin und Co. sind die letzte Generation, die durch das Denken des Kalten Krieges mit Feindbildern geprägt sind. Drei Jahrzehnte – und damit 1,5 Generationen in Europa – haben das zuletzt freie Leben mit Reisefreiheit erleben dürfen. Auch in Russland. Auch das Internet wird es – trotz der Möglichkeiten, es technisch einzuschränken – erschweren, freie Meinungsbildung dauerhaft zu verhindern.

Hoffen wir, dass Diktator Putin scheitert. Besser heute als morgen. Hoffen wir, dass sein Umfeld ihn zur Vernunft bringt und aus dem Amt jagt. Ansonsten kann es nur bedeuten: Durchhalten, nicht nachgeben und jede Gelegenheit nutzen, den Wert der Freiheit im Denken und Handeln, den Wert der Demokratie, zu dokumentieren. Immer und immer wieder.

Ja, und wenn der Spuk früher oder später vorbei ist (davon bleibe ich überzeugt), dann ist auch in Deutschland wieder Nachdenken gefragt, wie es weitergehen kann. Im Moment ist zu vieles zurecht dem Druck des Krieges und der Angst vor dem, was kommt, geschuldet. Stichwort: Grundgesetzänderung. Milliarden für Waffen und Aufrüstung sind auf Dauer jedenfalls nicht die Antwort, die uns die geben würden, die den 2. Weltkrieg erlebt bzw. überlebt haben. Der Eindruck des Momentes darf nicht dazu führen, dass jahrzehntelange Grundhaltungen zu Krieg und Waffen, die Deutschland prägen, verloren gehen.

Ich bin dankbar, dass ich in einem Land groß geworden bin, dass mir mit einer hohen Sensibilität auch in Zeiten des Kalten Krieges durch ausgewogene und strategisch gute Politik die Freiheit geschenkt hat.

Ich bin dankbar, dass ich in einem Land Bildung erlebt habe, die mir das freie Denken geschenkt hat.

Ich bin dankbar, dass ich in einem Land aufgewachsen bin, in dem ich entscheiden konnte, ob ich eine Waffe in die Hand nehme.

Ich bin dankbar, dass ich seit 1985 als Journalist immer das schreiben durfte, was ich für zutreffend und richtig hielt.

Und ich hoffe, dass meine Kinder und – wenn ich sie dann geschenkt bekomme – auch Enkelkinder ihre Leben lang genau in diesem Geiste weiter auf die Welt schauen können.

Und wenn die Welt im Moment auch sehr düster scheint, bin ich weiter vom Gedanken Anne Franks überzeugt: „Und trotzdem glaube ich an das Gute im Menschen“. Jeder von uns möge Tag für Tag mit kleinen guten Beispielen vorangehen. Die Kraft dieses Miteinanders kann niemand nehmen.

Ich danke allen, die auch dieses andere „Aufgeschnappt“ bis zum Ende gelesen haben.

HH

Holger HartwigAufgeschnappt – 6.März 2022