Die wichtigste Eigenschaft, die ein Redakteur haben muss, ist die Neugierde. Die wichtigste Fähigkeit, die er haben muss, ist es, Fragen zu stellen. Und worin unterscheidet sich, ob ein Redakteur sein Handwerk richtig gut versteht? An der Art, wie er seine Fragen auf den Punkt bringt und wie genau er fragt.
Sie denken vielleicht, eine Frage ist doch eine Frage. Worauf soll es da schon ankommen? Das stimmt. Auf den ersten Blick. Für mich ist ein Erlebnis aus dem Jahr 1990 bis heute in dieser Hinsicht prägend. Es läuft die Ostfrieslandschau in Leer. Ich weiß, dass ich in wenigen Wochen meine Ausbildung bei der Zeitungsneugründung „Wolgaster Anzeiger“ vor den Toren Usedoms in der ehemaligen DDR fortsetzen werde. Auf der Messe ist viel los. Auch viele Gäste aus dem Partner-Landkreis Wolgast sind gekommen. Einer von ihnen ist der Chef der Wolgaster Peene-Werft. Mit ihm ein Interview zu machen, wie sich der größte Wirtschaftsbetrieb in der Region an der polnischen Grenze auf die „neuen Zeiten“ einstellt, ist reizvoll. Also bitte ich Herbert Gerstmann, den Chef der Werft, zum Gespräch. Gleich zu Beginn frage ich ihn: „Seit wann sind Sie in dieser Funktion?“ Er antwortet: Seit 1. Juli 1990. Ok, denke ich, das wollte ich wissen, um einzuschätzen, ob er noch einer aus „der alten Zeit“ ist und sozusagen über Nacht vom Chef im Sozialismus zum Boss im Kapitalismus geworden ist. Na, wenn er es erst seit 1. Juli ist, dann wird er diese Position im Zuge der vielen Umbrüche übernommen haben. Herr Gerstmann antwortet freundlich und ausführlich auf alle meine Fragen. Ein angenehmes Gespräch. Es kommt zur Veröffentlichung. Erst einige Wochen später – ich bin jetzt in Wolgast – muss ich feststellen: Dieser Herr Gerstmann ist schon seit vielen Jahren der Leiter der Werft. Es gibt viele Fotos von ihm mit den SED-Politikgrößen. Hat er mich auf der Messe etwa angelogen? Nein, das hatte er nicht. Ich hatte ihn ja gefragt, seit wann er in dieser Funktion ist. Und seine Antwort war korrekt. Denn in der Tat war er erst seit 1. Juli Geschäftsführer der GmbH. Bis dahin war seine Funktion zwar inhaltlich dieselbe, aber hatte halt einen anderen Titel. Seit dieser Erfahrung weiß ich, dass es bei einer Frage immer darauf ankommt, dass jedes Detail sitzt. Einige Monate später habe ich mir übrigens den Geschäftsführer Gerstmann mal etwas genauer angesehen und einen Arbeiter der Werft gesprochen, der es auf den Punkt brachte, was viele damals denken. „Die Paradebeispiele der Wendehälse müssen fallen.“ Herr Gerstmann ist übrigens bis zu seiner Pensionierung noch viele Jahre Geschäftsführer geblieben und hat auch Eigentümerwechsel der Werft gut überstanden,
Zurück zu der Qualität im Detail: Gut in Erinnerung geblieben ist mir auch eine meiner ersten „Unterrichtstunden“ während meines Schülerpraktikums 1986 in der Lokalredaktion der Ostfriesen-Zeitung. Hans-Joachim Gösmann, der Lokalredakteur mit der Fliege, der immer äußert korrekt gekleidet war, gibt mir am zweiten Tag einen Auftrag. Ich möge bitte die extrem kurzen Meldungen und Nachrichten für die Rubrik „Leer in Kürze“ schreiben. Sie sind damals meist nur einen Satz lang und kündigen Veranstaltungen der Vereine oder im Bereich Kultur an. Herr Gösmann gibt mir einen Stapel Papier mit Briefen. Ich denke mir: „Kein Problem. Das bekommst du hin, schließlich hast du ja schon viele große Berichte geschrieben.“ Mit der natürlichen Nervosität setze ich mich hin und fange an zu formulieren. Nach etwa einer halben Stunde bin ich fertig. Zurück zu Herrn Gösmann und das fertige Werk vorlegen. In den nächsten Stunden lerne ich dann, was mit der deutschen Sprache alles möglich ist. Immer und immer wieder bekomme ich die Meldungen von ihm zurück mit dem Hinweis, dass das noch besser geht. Er macht mir deutlich, dass es möglich sein muss, dass keine einzige der Meldungen so wie die andere formuliert sein kann. Puhhh. Gar nicht so einfach, die siebte, achte oder neunte unterschiedliche Formulierung zu finden, dafür das etwas „stattfindet“ (das Wort mag ich bis heute nicht, wenn etwas nicht stattfindet, dann würde auch keine Zeile darübergeschrieben). Irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit ist Herr Gösmann dann zufrieden – und ich auch. So richtig verstanden habe ich es erst viel später, was das Ziel dieser Übung war: Vielfalt der Sprache statt eintöniger Langweile und die Botschaft, dass die deutsche Sprach immer noch eine weitere Möglichkeit bietet, etwas auszudrücken. Eines ist mir seit dieser Erfahrung immer bewusst gewesen: Qualität erkennst Du bei den kleinen Dingen, den Details. Denn einen Leitartikel oder Aufmacher, den sollte jeder Redakteur gut hinbekommen können. Wenn ich heute irgendwo eine Zeitung in die Hand bekomme, schaue ich als erstes auf die Details. Denn wenn dort gut gearbeitet wird, dann weiß ich, dass dort „Sprach- bzw. Wortakrobaten“ am Werk sind. Und der eine oder andere Volontär oder freie Mitarbeiter in den vielen Jahren, in denen ich Zeitung gemacht habe, möge mir verzeihen, dass Herr Gösmann für mich immer ein gutes Vorbild war, wenn es um das Thema Ausbildung ging.
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