Der Fake-Rücktritt

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Es ist Frühjahr 1991 in wilden Osten. Telefon gibt es (fast) nicht und so manche journalistische Geschichte kommt dahergelaufen. So auch an diesem Morgen. In unserem kleinen Büro in Wolgast stehen zwei, die sich als Ratsmitglieder bzw. Fraktionsvorsitzende der kleinen Gemeinde Trassenheide vorstellen. Sie wollen mir von der Ratssitzung vom Vorabend berichten. Wir nähern uns dem Thema an. Beide erzählen fröhlich drauflos und berichten, dass am Abend zuvor der Bürgermeister Helmut Kaliebe von seinem Amt zurückgetreten ist. Das Duo liefert tolle Zitate, erzählt übereinstimmend schlüssig, es könnte ein spannender Bericht werden. Natürlich versuche ich auch den besagten (Ex)-Bürgermeister irgendwie zu erreichen. Ich fahre in den Ort auf der Insel, treffe ihn aber nicht an. Nun gut, denke ich, über seine Reaktion und seine Begründung für den Rücktritt kann ich auch noch am nächsten Tag schreiben. Also erscheint die Geschichte auf der Titelseite des Wolgaster Anzeiger…

Am nächsten Morgen bin ich kaum im Büro – es war ein kleines Zimmer, wir schrieben unsere Texte vor allem zwischen Druckmaschinen und am Tisch der Betriebsküche, weil der Bürocontainer nicht aufgestellt wurde – und es steht ein Mann mit ziemlich unfreundlicher Miene vor mir und legt so richtig los. Zitate gefällig: „Was denken Sie sich dabei zu schreiben, dass ich zurückgetreten bin? Was schreiben Sie für einen Mist?“ usw. usw. Ich komme nicht zu Wort – für einige Minuten. Irgendwann ist er fertig. Es ist Herr Kaliebe. Wir finden dann doch noch zu einem Dialog. Ich berichte ihm von dem Besuch der beiden Ratsmitglieder und den Aussagen und dass ich versucht habe, ihn zu erreichen. Er stellt klar: An dem, was die beiden – Entschuldigung – „halbirren Dorfpolitiker“ tags zuvor erzählt hätten, stimme kein einziges Wort. Ich bin entsetzt. Natürlich stimmen wir ab, wie wir am nächsten Tag alles wieder korrigieren. Das ist selbstverständlich. Für mich ist das Thema damit noch lange nicht durch. Wie kann es sein, dass mir gewählte Politiker so einen Mist erzählen? Was denken die sich dabei? Es lässt mir keine Ruhe. Ich fahre wieder nach Trassenheide, um die beiden auf ihre Lügen anzusprechen. Und was passiert? Beide offenbaren ihre ganz eigene Auffassung von Zeitung und Verantwortung für eigene Aussagen. Sie meinen allen Ernstes: „Wieso sollen wir die Verantwortung dafür übernehmen? Sie haben das doch geschrieben! Das steht doch ganz klar ihr Name unter dem Text. Also ist das ihre Meinung“. Upps. Scheint wohl so, dass mein Verständnis von Presse ein anderes ist, als das, was diese beiden Menschen damit verbinden. In den folgenden Monaten bin ich aufmerksamer. Dabei stelle ich fest, dass es wirklich viele ehemalige DDR-Bürger gibt, die meinen, dass die Zeitung für die Inhalte verantwortlich ist und nicht derjenige, der sie gesagt hat. Und ich lerne auch eines von Tag zu Tag mehr. Die „Ossis“, die uns Ostfriesen den Kosenamen weggenommen haben, wissen ziemlich genau, welche Antworten ich auf eine Frage hören möchte und sind dabei dann manches Mal auch sehr flexibel. Das musste der eine oder andere zu DDR-Diktaturzeiten auch wohl sein. Es gibt ausreichend Berichte, was passierte, wenn jemand zum falschen Zeitpunkt das falsche Wort in den Mund genommen hat. Bis heute habe ich diesen Fake-Rückritt und die Umstände nicht vergessen – und Vorsicht ist die Mutter de Porzellankiste, wenn einem jemand etwas erzählt. Und immer schön der Hinweis: Ich schreibe das mit ihrem Namen und Sie tragen für Ihre Aussage auch dann die Verantwortung… Übrigens: Der Bürgermeister Kaliebe ist dann wenig später tatsächlich zurückgetreten – wie insgesamt sechs der zehn Ratsmitglieder in Trassenheide. Eifersüchteleien und öffentliche, rücksichtslose persönliche Angriffe sorgten dafür. Mitte 1992 musste nachgewählt werden (siehe dazu Ausschied aus dem SonntagsAnzeiger für den Kreis Wolgast, 14. Juni 1992), und es war lange nicht klar, ob die kleine Gemeinde überhaupt regierbar bleibt und ob sich genügend Kandidaten finden.

Ach ja, es ist für mich kein Trost, dass auch so manch anderer Kollege in dieser Zeit reingelegt wird bzw. eine Geschichte schreibt, die sich als Ente entpuppt. Heftig ist zum Beispiel die Story einer Mutter mit drei kleinen Kindern, die eine Nacht mit ihrem Nachwuchs in einer Bushaltestelle übernachtet hat. Der Gatte sei gewalttätig geworden und sie sei aus der gemeinsamen Wohnung „geflohen“, erzählte die jung Mutter. Es hört sich alles sehr authentisch an. Die Geschichte erscheint im Blatt. Es gibt Leserreaktionen. Und trotz Wohnungsnot (die gab es damals tatsächlich in Vorpommern) gelingt es, dass die Mutter nicht noch eine weitere Nacht in der Bushaltestelle schlafen muss. Alle sind glücklich – bis einige Tage später ein Typ in die Geschäftsstelle kommt mit einer Mischung aus Spott und Dankbarkeit. Er macht sich lustig, dass das so prima mit der Wohnung geklappt hat. Denn die gesamte Bushalte-Geschichte sei erstunken und erlogen gewesen. Aber es habe ja funktioniert. Seine Ex und Kinder hätten eine Wohnung, die sie sonst nie bekommen hätten.

Wir werden insgesamt immer vorsichtiger, denn es passieren immer wieder Geschichten, bei denen wir uns an den Kopf fassten. Beispiel gefällig: Eine Wohnungstausch ganz besonderer Art. Der Chef des Wohnungsunternehmens, Klaus Rehbein, hat 1992 bei einem Redaktionsbesuch davon erzählt. Tags zuvor habe ein Mieter im Büro der Genossenschaft gestanden und sich beschwert, dass er gegen seinen Willen „umgezogen worden ist“. Was war passiert? Wohnraum ist knapp. Und der besagte junge Mann hatte eine Party mit Freunden gefeiert, bei der es auch wohl etwas zu viel zu trinken gab. Einige Tage nach der Party sei einer seiner Kumpels samt Verstärkung angerückt und habe innerhalb kürzester Zeit seine Wohnung leergeräumt und die Sachen in eine neue Wohnung gebracht. Man habe ja bei der Party „vereinbart“, dass man die Wohnungen tausche. So richtig kapiert habe er das ja nicht, aber seine Sachen stünden nun in der Wohnung des Freundes. Eigentlich wollte er das nicht, aber was solle er nun machen gegen den Umzug wider Willen? Ich habe über diesen Tausch dann geschrieben und der Geschäftsführer hat im Text über die Bedeutung von Mietverträgen etc. informiert. Irgendwie immer noch unglaublich. Es gibt nichts, was es in dieser Zeit nicht gibt. Vielleicht wird damals bereits mein Interesse geweckt, was mich von 2000 bis 2005 als Vorstandsreferent zum Bauverein Leer eG führt. Aber das ist eine andere Geschichte…


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