Aufgabe eines Redakteurs ist es, das Leben mit allen seinen Facetten (kritisch) zu begleiten. Er ist in der Zuschauerrolle und darf mit wertenden Kommentaren Anregungen geben, aber sollte selbst nie aktiver Akteur sein. Manchmal kommt es anders…
Es ist 1992. Vor den Toren der Insel Usedom sind es „heiße“ Zeiten. Aktuell geht es um die Zukunft der Peene-Werft in Wolgast. Die Werft ist das einzige Industrieunternehmen der Region, hatte einstmals über 2900 Mitarbeiter und ist wirtschaftliche ähnlich bedeutsam wie die Meyer Werft für das Emsland und Ostfriesland. Die Peene-Werft steht zum Verkauf. Verantwortlich: die Treuhandbehörde im fernen Berlin. Sie kümmert sich um alle Privatisierungen und ist alles andere als auskunftsfreudig. Viele Telefonate, viele Nachfragen zum Stand der Dinge – meist keine Antworten. An diesem Vormittag ist es anders. Durch einen Informanten weiß ich, dass tags zuvor die Gespräche zwischen der „Anstalt“ und der Hegemann-Gruppe als potenziellem Käufer ins Eingemachte gegangen sind. Man ist sich nähergekommen – und wie immer ging es dabei auch Verpflichtungen zum Arbeitsplatz- und Standorterhalt. „Ausgehöhlt“ wurden in den vergangenen Monaten nach einem Verkauf ausreichend ostdeutsche Unternehmen…
Das Telefonat bringt einige – auch unerfreuliche – Erkenntnisse, die zum Teil weitere Recherchen erfordern. Meinen ersten Text werde ich abends schreiben – für die Zeitung am nächsten Tag, denn das schnelle Internet gibt es ja noch nicht. Vorher wartet der Wolgaster Kreistag im „Vier Jahreszeiten“. Auch dort steht das Thema Werft auf der Tagesordnung. Die Politiker wollen eine Resolution verfassen, die sich für den Standorterhalt der Werft ausspricht und der Treuhand ein deutliches Signal geben soll „Mit uns könnt Ihr nicht alles machen, wir wehren uns“. Ich bin gespannt auf die Diskussionen, denn aus Erfahrung wird im Kreistag gerne mal mehrere Stunden die Debattenkultur gepflegt (kannte man dort ja auch lange genug nicht so).
Nach einiger Zeit steht dann die Resolution auf der Tagesordnung. Wie erwartet, wird viel geredet. Mir fällt auf: Offenbar hat keiner die aktuellen Infos, wie weit die Gespräche bereits vorangeschritten sind. Der Text der Resolution, auf den sich die Fraktionen verständigen ist – sagen wir es mal vorsichtig – suboptimal. Er wird nicht mehr bewirken, weil die Fakten in Berlin schon andere sind. Bevor jedoch abgestimmt wird, ruft Kreistagspräsident Dr. Klaus Gollert eine Sitzungspause für die Raucher aus.
Und nun? Ich kenne Dr. Gollert (er ist auch Sozialminister im Land Mecklenburg-Vorpommern) gut. Er ist auch einer der (stillen) Gesellschafter der Zeitung, für die ich arbeite. Soll ich ihn ansprechen mit meinem Wissen? Die Beobachterrolle verlassen? Ich muss schnell entscheiden. Und gehe den direkten Weg. Dort, wo jeder mehrere Male am Tag hingehen muss, stehe ich neben dem Minister. Ich bitte ihn, dass wir gleich einmal kurz nach draußen gehen. Ich müsse mit ihm etwas Wichtiges besprechen. Er geht darauf ein. In einem kurzen Austausch berichte ich ihm, warum die Resolution aus meiner Sicht andere Formulierungen haben müsse. Er bedankt sich. Die Sitzung geht kurze Zeit später weiter. Es steht der Beschluss der Resolution an. Und was macht Dr. Gollert? Er formuliert den Beschlussvorschlag so, dass alle „Anregungen“ und „Ergänzungen“ so aufgenommen und verpackt sind, dass es nicht auffällt, aber die Resolution damit nicht nutzlos ist. Die Abstimmung erfolgt – einstimmig.
Die Sitzung dauert noch zwei weitere Stunden. Um dann am Ende auf „Nummer sicher“ zu gehen, gehe ich nach Sitzungsende zum Kreistagspräsidenten. Ich will von ihm den finalen Wortlaut haben. Ich frage ihn danach – er schaut mich an und spricht die Kreistagssekretärin an. „Können Sie mir den finalen Text nennen?“. Die Sekretärin antwortet: „Das wollte ich noch mit Ihnen besprechen. Sie haben da ja einiges kurzfristig geändert. Ich weiß nicht genau, wie es jetzt geheißen hat.“ Dr. Gollert schaut mich kurz an, blickt dann zu seiner Sekretärin und sagt: „Fragen Sie am besten Herrn Hartwig, der weiß, wie das richtig heißen muss“. Dr. Gollert verabschiedet sich, er muss zurück ins Ministerium nach Schwerin. Ich stehe bei der Kreistagssekretärin und wir formulieren gemeinsam die Resolution aus. Sie passt jetzt und die wesentlichen Punkte werden später bei der Übernahme durch die Bremer Unternehmensgruppe (sie blieb bis 2010 Eigentümer, heute gehört die einstmals von der Sowjetischen Militäradministration gegründete Werft zur Lürssen-Gruppe aus Bremen) erfüllt.
Diese Kreistagssitzung werde ich nie vergessen. Mitbekommen hat die Hintergründe der Entstehung dieses Kreistagsbeschlusses außer Dr. Gollert, der Sekretärin und mir niemand. Gut so. Nach fast 30 Jahren wird das auch niemanden mehr interessieren, zumal das Ergebnis ja gut war.
Die Situation im Wolgaster Kreistag ist – wie so vieles in dieser Zeit – in dieser Form einmalig geblieben. Sie hat mich bis heute geprägt. Ob ich Beobachterrolle in anderen Situationen verlasen habe, wenn es für mich sinnvoll erscheint? Ja. Allerdings nur, wenn ich für mich geklärt habe, dass mein – hoffentlich – gesunder und politisch neutraler Menschenverstand mir sagt, dass es der Sache dient. Denn am Ende bin ich als Redakteur auch ein Bewohner wie jeder andere in einer Region – und sollte immer das Beste für die Menschen vor Augen haben. Aber das immer auch mit der Gewissheit, dass ich meinen „Rollenwechsel“ auf jeden Fall für mich behalte (zumindest bis es verjährt ist).
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