Die Arbeitslosenquote ist im Kreis Leer seit mehreren Jahren stabil und liegt zwischen 5,5 und 5,8 Prozent. Die Zahl der Haushalte, die als Bedarfsgemeinschaften Geld erhalten, liegt seit Jahren etwa bei 5.000. Vor drei Jahrzehnten sah das anders aus – mit in der Spitze fast 30 Prozent erwerbslosen. Alles gut im Kreis Leer? Mitnichten. Die bittere Wahrheit ist: Die soziale Armut und die damit verbundenen Kosten steigen kontinuierlich und rasant. 2021 werden die Kosten für diesen Bereich kreisweit über 200 Millionen Euro und damit über 60 Prozent der Gesamtausgaben des Kreishaushaltes von etwa 355 Mio. Euro betragen. Der Kreis muss von dieser Summe einen nennenswerten Teil selbst finanzieren. Eine Hintergrundbetrachtung.
Die Lage kurz und knapp zusammengefasst
Die gesamten nachfolgenden Positionen sind zusammengefasst im Haushalt unter „Teilhabe und Soziales“. Wie beschreibt die Kreisverwaltung kurz und knapp die aktuelle Entwicklung?
- Eingliederungshilfe: Hier konnte in den letzten zehn Jahren ein Gesamtanstieg der Ausgaben in Höhe von rund 70 Prozent verzeichnet werden. 2020 waren 2.352 Personen, Leistungsempfänger. Das ist gegenüber 2014 eine Steigerung um rd. 18,5 Prozent
- Hilfe zum Lebensunterhalt: Sie verzeichnet eine durchschnittliche Steigerung in den letzten Jahren bei 19 Prozent jährlich. 2020 waren es 203 Leistungsbezieher und damit insgesamt eine Steigerung in den vergangenen zehn Jahren um 28,5 Prozent.
- Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: In den letzten zehn Jahren ist eine Gesamtsteigerung in Höhe von rund 66 Prozent zu verzeichnen. 2020 gab es kreisweit 1.854 leistungsberechtigte Personen. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der betroffenen Personen um 29 Prozent.
- Heimunterbringungin Einrichtungen der Pflege entstand in den letzten zehn Jahren eine Steigerung von insgesamt rd. 26 Prozent. 2020 waren es 530 Fälle und das bedeutet in den vergangenen zehn Jahren eine Steigerung um 12 Prozent.
- Wohngeldbelief sich in den letzten Jahren die durchschnittliche jährliche Steigerung auf 3,22 Prozent.
- Elterngeldergab sich eine durchschnittliche jährliche Steigerung der Ausgaben in Höhe von 1,17 Prozent.
Migration ein Grund für Steigerung? Daten nicht erfasst
Inwieweit diese Kostensteigerungen mit der Zunahme von Haushalten mit Migrationshintergrund zu tun haben, dazu trifft der Kreis keine Aussage. „Zu diesem Bereich können keine Aussagen getätigt werden, da Personen mit und ohne Migrationshintergrund nicht gesondert erfasst werden“, so die Antwort auf die entsprechende Nachfrage. Auch zu der erwarteten weiteren Entwicklung gibt es eine pauschale Antwort. „Aufgrund der immer komplexer werdenden Leistungen mit zunehmender Fallzahlensteigerung in den letzten Jahren ist auch künftig mit einer Steigerung zu rechnen“, so die Antwort aus dem Leeraner Kreishaus.
Nachfolgend der Blick in die einzelnen Bereiche (Gesamtkosten und jeweiliger Kreisanteil):
90 Millionen Euro an Sozialleistungen nach SGB
Die Sozialleistungen nach dem Neunten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX und SGB XII) belaufen sich in 2021 auf insgesamt 91,2 Mio. Euro und sind damit 11 Mio. Euro höher als im Vorjahr. Der Landkreis wird in diesem Bereich, der im wesentlichen Eingliederungshilfen und Grundsicherung im Alter und Hilfen zum Lebensunterhalt umfasst, etwa ca. 14,84 Mio. Euro selbst finanzieren müssen.
80 Millionen Euro Zuschuss für Zentrum für Arbeit
Für 2021 wird im Bereich des Zentrums für Arbeit mit insgesamt 5.200 Bedarfsgemeinschaften (BG) geplant. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen leichten Anstieg, der mit der Corona‐Pandemie begründet wird. Die Belastung des Kreises Leer wird mit 10,6 Mio. Euro geringer ausfallen als in den Vorjahren, weil auf Bundesebene ein kommunaler Solidarpakt beschlossen wurde (2020 musste der Kreis noch etwa 16 Mio. Euro „zuschießen“.
Immer mehr Familien und Kinder sozial „am Abgrund“
Ein Kostentreiber ist seit Jahren vor allem der Bereich der Kinder‐, Jugend‐ und Familienhilfe. Er hat den Bereich der Sozialen Hilfen mit einem Gesamtvolumen von 46,2 Mio. Euro übertroffen. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Summe , die der Kreis Leer zu tragen hat, von 15 Mio. Euro in 2011 auf knapp 38,375 Mio. Euro (ohne Personal und Verwaltungskosten). Diese Defizite können – wie es schon im Haushalt für 2020 hieß – „lediglich durch die gute allgemeine Ertragslage ausgeglichen werden und stellen ein hohes finanzielles Risiko für zukünftige Haushalte dar“. Für die höchsten Ausgaben sorgen dabei die Hilfen zur Erziehung mit insgesamt 21,3 Mio. Euro aus. Sie sorgen für ein Minus von 18,6 Mio. Euro (2011 noch 10 Mio. Euro.) Diese Defizitsteigerung ist nach Darstellungen des Kreises darauf zurückzuführen, dass es im Bereich der sozialpädagogischen Familienhilfe zu Steigerungen der Fallzahlen kommt. Zitat: „Die Inanspruchnahme der Hilfen hat dabei folgende Gründe: Belastungen des jungen Menschen durch Problemlagen der Eltern, eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern oder Sorgeberechtigten, Entwicklungsauffälligkeiten und seelische Probleme des jungen Menschen sowie Auffälligkeiten im sozialen Verhalten. In den meisten Fällen wenden sich die Eltern oder einzelne Elternteile selbst mit der Bitte um Unterstützung an das Amt für Kinder‐Jugend‐ und Familienhilfe. Der Impuls kann aber auch von Dritten kommen.“ Zudem habe sich die Zahl der kostenintensiven Fremdunterbringungen, die durch Steigerungen der Anzahl der hochbelasteten Kinder und Jugendlichen, für die intensivpädagogische Maßnahmen erforderlich sind, erhöht und die Kosten für die „Unterbringung in Heimen“ mussten auf nun 9,85 Mio. Euro angehoben werden.
Junge Volljährige kosten 7 Mio. Euro
Nicht nur bei Kindern, Jugendlichen und Familien sind die Ausgaben erheblich. Auch die Anzahl der jungen Volljährigen, die über ihr 18. Lebensjahr hinaus in Pflegefamilien leben, ist gestiegen. Diese Entwicklung lässt sich u.a. mit längeren Schulbesuchen erklären, schreibt der Kreis. Ingesamt werden in diesem Bereich etwa 7 Mio. Euro ausgegeben, davon muss der Kreis aus eigenen Mitteln 5,67 Mio. Euro tragen.
8 Mio. Euro Zuschuss für Kindertageseinrichtungen
Kräftig gestiegen sind auch die Kosten, die der Kreis für Kindertageseinrichtungen übernimmt. Waren das 2011 0,59 Mio. Euro, sind es 2021 „satte“ 8,25 Mio. Euro. Die Summe hat sich im Vorjahresvergleich um 1,82 Mio. Euro erhöht. Hintergrund des Anstiegs auf die aktuelle Summe ist der Umstand, dass der Kreistag 2020 beschlossen hat, sich mit 5 Mio. Euro an den Defiziten der Städte und Gemeinden pro Jahr zu beteiligen, die ansonsten für die Kindertageseinrichtungen verantwortlich sind.
Auch Unterhaltsvorschuss steigt an
6.945 Mio. Euro werden von Seiten des Kreises für den Vorschuss an Unterhalt aufgewendet. Zieht man die Einnahmen ab, bleibt der Kreis auf Kosten von etwa 1,34 Mio. Euro „hängen“. Der Kreis schreibt dazu weiter: „ Als Nachwirkung der Corona-Pandemie ist davon auszugehen, dass tendenziell mehr getrennt lebende Eltern nicht in der Lage sein werden, den Unterhalt für ihre Kinder zu zahlen.“
Integrationshelferkosten steigen deutlich
Die Kosten für Eingliederungshilfen (sie soll Menschen mit einer Behinderung oder von Behinderung bedrohten Menschen helfen, die Folgen ihrer Behinderung zu mildern und sich in die Gesellschaft einzugliedern) werden für 2021 mit 64,61 Mio. Euro beziffert. Demgegenüber stehen Erstattungen von ca. 48,52 Mio Euro. Auch wenn ein hoher Anstieg in den vergangenen Jahren (2011 waren es 34,64 Mio. Euro) durch Änderungen in der Gesetzeslage begründet sind, verdeutlicht nach Darstellung des Kreises aber den kontinuierlichen Anstieg der Aufwendungen in der Eingliederungshilfe über einen Zehnjahreszeitraum Die Tendenz ist weiterhin steigend. Insbesondere im Bereich der Integrationshelfer sind jährliche Steigerungsraten von über 50 % zu verzeichnen. Neben einer moderaten Fallzahlensteigerung sind insbesondere die Hilfen zur Integration ein ständig wachsender Bereich, bei dem die Kosten permanent steigen. Dies entspricht dem bundesweiten Trend, stellt die Kreisverwaltung fest. In Summe muss der Kreis Leer in diesem Bereich einen Eigenanteil von etwa 16,1 Mio. Euro tragen.
Bei Asylbewerbern bleibt Geld übrig
Beim weiteren Blick in die Details der Sozialleistungen des Kreises überrascht die Situation im Bereich der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Hier geht der Kreis von Gesamtkosten von 13,5 Mio. Euro aus – und erwartet für 2021 einen Überschuss von 1,46 Mio. Euro.
Ergänzung
In Ergänzung zu dem allgemeinen Zahlwerken hat der Kreis auf Anfrage eine Probeberechnung für monatlichen Leistungsempfang einer Bedarfsgemeinschaft vorgenommen:
Für einen Ein-Personen-Haushalt ergibt sich folgende Berechnung:
Max Mustermann, geb. 01.01.1972:
Regelbedarf = 446,00 €
Kosten der Unterkunft anerkannte Kaltmiete in der Stadt Leer = 394,00 €
Heizkosten maximal = 71,00 €
911,00 €
davon einzusetzendes Einkommen, z.B. aus Renten 0,00 €
Bedarf Max Mustermann = 911,00 €
Sofern Max Mustermann einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“ besitzt, würde noch ein Mehrbedarf in Höhe von 75,82 € mtl. hinzugerechnet werden.
Bei einem Ehepaar würde sich folgende Berechnung ergeben:
Max und Maxima Mustermann
jeweils Regelbedarf 401,00 € = 802,00 €
Kosten der Unterkunft: Stadt Leer maximal = 460,00 €
Heizkosten maximal = 85,00 €
1.347,00 €
abzüglich einzusetzendes Einkommen, z.B. aus Renten 0,00
Bedarf Familie Max Mustermann = 1.347,00 €
Bei dieser Probeberechnung ist zu berücksichtigen, dass in den Landgemeinden die Mieten niedriger sind als im Bereich der Stadt Leer und bei der Höhe der Miete die tatsächliche Miete angerechnet wird maximal bis zur Höhe der in der Probeberechnung genannten Beträge. Gleiches gilt für die Heizkosten. Letztendlich handelt es sich um eine reine spekulative Berechnung, da jeder Einzelfall individuell aufgrund der persönlichen Verhältnisse zu betrachten ist. Dies gilt z. B. auch im Hinblick auf Einkommen und die Anrechenbarkeit von Vermögen, evtl. Freibeträge, Mehrbedarfe etc.
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DER KOMMENTAR
Aufwachen
Wer sich die Größenordnung und vor allem den Anstieg der Aufwendungen und des darin erhaltenen Anteils des Kreises Leer im Bereich Soziales und Teilhabe in Summe anschaut, der reibt sich die Augen. Schon heute machen diese Ausgaben für Soziales und Teilhabe über 60 Prozent des gesamten Haushaltes aus. Der Kreis muss davon eine hohe Millionensumme selbst tragen. Geld, das für andere dringend notwendige Investitionen fehlt
Fest steht: Der Gesetzgeber hat die Ausgaben für die Betroffenen so im Detail geregelt. Sie entsprechen der Lebensrealität vieler Menschen in der Region bzw. im gesamten Land. Sie sind Teil unseres Modells der „sozialen Marktwirtschaft“.
Der Blick in die Details der Ausgaben macht Angst. Erschreckend ist, wie sich die Ausgaben für Familien und Kinder entwickeln. Das zeigt: Immer mehr Haushalte sind mit dem Alltag und der Erziehung überfordert. Diese Fakten belegen eine soziale Armut die weit über die nackten Zahlen hinausgehen. Und das Schlimmste daran ist: Diejenigen, die hier bereits in jungen Jahren unterstützt werden müssen, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Leistungsbezieher der Zukunft.
Kurzum: Es wird Zeit, dass der Blick auf den Zustand unserer Gesellschaft sich nicht mehr nur auf Arbeitslosenquote etc. richtet. Denn die Gefahren der sozialen Armut lauern fernab von Arbeitsplätzen vielmehr in dem Umstand, dass immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen. Aber: Um was wollen wir wetten, dass diese Thematik in den anstehenden Wahlkämpfen im Bund und auf kommunaler Ebene keine Rolle spielt? Nur: Auf Dauer ist Verschweigen anstelle einer Diskussion über neue Wege keine Lösung. HH
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