Von „irren“ Projekten

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Es ist Januar 1992. Ich bin gerade seit sechs Wochen als Redakteur in Berlin bei einem der renommiertesten Medienhäuser Deutschlands, Gruner & Jahr, angestellt. An einem Donnerstag klingelt gegen 16 Uhr mein Telefon. Die Geschäftsführung aus Hamburg ist am anderen Ende. Frage von dort: „Herr Hartwig, können Sie bitte morgen um 10 Uhr in Rostock sein?“ Antwort: „Ja, kann ich. Was ist denn da?“ – „Das sage ich Ihnen morgen. Wir sehen uns morgen in Rostock.“ Ok, was mag das werden? In Rostock gibt G & J den „Warnow Kurier“, eine Wochenzeitung mit 150.000 Auflage, heraus. Ich habe ja gelernt, flexibel zu sein…

Also mache ich mich am nächsten Morgen auf den Weg nach Rostock. Wird schon nicht so schlimm werden, denke ich. Wenn man mir kündigen wollte, dann würde das der Geschäftsführer nicht persönlich machen. Ich bin pünktlich. In einer kleinen Runde kommt der Geschäftsführer, der heute Chef der NOZ-Medienholding ist, direkt zur Sache: „Wir haben hier eine neue Marktsituation. Der Verlag, der hier eine Sonntagszeitung herausgibt, greift uns an. Er kommt in Kürze mit einer zusätzlichen Mittwochausgabe. Da müssen wir handeln. Wir werden hier eine Sonntagsausgabe des Warnow-Kurier herausgeben. Und Sie sind dafür verantwortlich. Sie haben Erfahrungen mit Sonntagszeitungen. Wir setzen auf Sie.“ Bumms. Klare Kante. Nach kurzer Pause sage ich mit etwas Ironie: „Aber nicht mehr diesen Sonntag, oder?“. Antwort: „Nein, diesen nicht, das wird etwas knapp. Aber nächsten Sonntag.“ Ok. Wieder klare Kante. Ich frage: „Was ist vorbereitet?“ – „Nichts. Wir organisieren Druck, Vertrieb und Anzeigenverkauf, Sie machen das Produkt mit Optik, Inhalten und Produktion.“ Puhhhhh. Ich habe de facto keine Wahl. Eine gute Woche, um eine neue Zeitung aus dem Boden zu stampfen? Ohne weitere Mitarbeiter? Ohne Vorarbeiten für Layout etc.? Und das Ganze in einer Stadt, in der ich zuvor zweimal war? Was soll das wohl werden? Der Geschäftsführer legt nach: „Sie können das. Sie haben in Wolgast, wie wir wissen, unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet und auch dort eine Sonntagszeitung entwickelt.“ Eine gute Stunde später ist dann eine Betriebsversammlung geplant. Dort sollen die Mitarbeiter, die bisher für die Mittwochausgabe arbeiten, über das Projekt informiert werden. Ich bekomme nur noch gesagt, dass ich mir Gedanken machen soll, wie ich die Mitarbeiter für die neue Sonntagszeitung bei der Vorstellung meiner Person für das Projekt „begeistern“ soll…

Die Betriebsversammlung beginnt. Ich sitze mit dem Geschäftsführer und dem Objektleiter vorne. Es wird sehr deutlich gemacht, dass das Projekt „extrem wichtig“ ist um einen „Angriff“ abzuwehren. Und dann kommt ein Satz, den ich nie vergessen werde. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit wir das gemeinsam schaffen, habe ich Verstärkung mitgebracht. Herr Hartwig rechts von mir wird die Zeitung inhaltlich konzipieren und umsetzen. Er bringt Erfahrung im Bereich der Sonntagszeitungen mit und wir sind sicher, dass das Projekt bei im in den besten Händen ist.“ Kaum hat er den Satz ausgesprochen, schauen mich – so fühlt es sich an – alle an mit einem verwunderten Blick. „Der soll das machen? Der soll Erfahrungen haben?“, so empfinde ich die Gesichter, die sich auf mich richten. Schließlich sieht man mir an, dass ich gerade mal 22 Jahre bzw. Anfang 20 bin. Dann bin ich dran. Ich weiß heute nicht mehr, was ich gesagt habe. So schlecht muss es nicht gewesen sein. Jedenfalls verlaufen die ersten Gespräche gut. Und die Vertriebsleiterin – sie ist fußballbegeistert – spricht gleich davon, dass „wir dann mal sehen, was unser Jimmy daraus macht.“ Sie „tauft“ mich mit diesem Namen in Anlehnung an den Spieler des HSV. Na denn, dann lass das mal den Jimmy machen…

Mir bleiben also genau acht Tage bis zum Start. Das Wochenende nutze ich, die neue Zeitung optisch und inhaltlich zu konzipieren. Montag nach Hamburg in die G&J-Zentrale, um alles zu besprechen, damit von dort die Abläufe der Produktion und die Grundlayouts vorbereitet werden. Nachmittags weiter nach Rostock. Bis Freitag muss alles fertig sein, Samstag ist Produktionstag im abc-Satzstudio in Lübeck, gedruckt wird in Rotenburg an der Wümme. Wieviel ich in dieser einen Woche geschlafen habe? Fast gar nicht. Woher ich die Themen bekommen habe? Kreativität hoch 10. Auf jeden Fall steht am Freitag abend die Ausgabe. Mit einem Exklusiven-Aufmacher zur Zukunft des größten Baukonzerns des Landes, der seinen Sitz in Rostock hat (ich kenne das Unternehmen, weil es auch die Werft in Wolgast gekauft hat). Dazu jede Menge Rubriken vom „Wort zum Sonntag“ bis hin zur Spalte „Aufgeschnappt“ und einem lokalen Sportteil. Das Team in Rostock zieht gut mit. In Lübeck läuft alles rund und Sonnabend um Mitternacht halte ich den „Warnow Kurier am Sonntag“ mit 28 Seiten Umfang in der Druckerei zwischen Hamburg und Bremen in den Händen (auch wenn ich todmüde war, ich wollte unbedingt beim Andruck selbst dabei sein).

Den Sonntag und Montag verbringe ich „zur Erholung“ in meiner Wohnung in Berlin. Dienstag geht es dann wieder nach Rostock. Und da bekomme ich dann einen Anruf. Wieder ist jemand aus der Zentrale dran. Dieses Mal der, mit dem ich das Projekt umgesetzt habe. „Herr Hartwig, ich muss Ihnen etwas mitteilen. Sitzen Sie gut?“ – Oh je, was ist denn jetzt passiert, denke ich. Ok, ich setze mich hin und das Herz rast. Dann die Erleichterung. „Ich soll Ihnen beste Grüße vom Vorstandsvorsitzenden des Konzerns übermitteln. Er gratuliert Ihnen zu dem tollen Produkt.“ Ich bedanke mich und frage, warum ich mich den jetzt hinsetzen sollte. Das sei doch eine tolle Nachricht. Der Mann am anderen Ende merkt an dieser Stelle dann, dass ich konzerunerfahren bin. „Sie wissen wohl nicht, was das bedeutet?“ Nein, wieso, ist doch nett, antworte ich. Darauf er: „Sie sind jetzt eineinhalb Monate bei uns und haben etwas geschafft, wovon viele träumen: Der Vorstand hat Ihre Arbeit gelobt“. So hatte ich das in der Tat nicht gesehen…

Bis Mitte des Jahres bleibe ich in Rostock. Es läuft gut, es werden immer mehr Anzeigen verkauft und die Resonanzen aus der Leserschaft stimmen. Erst im Oktober wird die Ausgabe wieder eingestellt. Man hat sich mit dem anderen Verlag „verständigt“. Mein Weg führt weiter nach Dresden. Auflage dort: 670.000 Stück, über 20 unterschiedliche Ausgaben. Dort ist das Ziel, die Produktion und Personalstrukturen neu zu ordnen, ein neues Layout und ein neues inhaltliches Konzept zu entwickeln. Dieses Mal habe ich etwas mehr Zeit: drei Monate…

Wenn ich heute an diese Aufgabenstellungen – weitere aus heutiger Sicht irre Projekte folgen noch, aber dazu ein anderes Mal mehr – dann denke ich oft: „Kneif mich mal. War das wirklich so? Und das alles mit Anfang 20. Hätte ja auch schief gehen können. Und dann? Was wäre dann aus mir geworden?“ Auf jeden Fall habe ich gelernt: Geht nicht, gibt´s wirklich nicht. Und Zeitung machen ist eine der schönsten, faszinierendsten und geilsten Aufgaben, die es gibt! Danke an alle, die mir das ermöglicht haben und mir Aufgaben zugetraut haben, die ich sonst nie angegangen wäre.


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