Die Brieftaube als deutsch-deutscher Postbote

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Es sind ganz besondere Zeiten im Herbst 1990. Deutschland ist einig Vaterland, aber so vieles im Miteinander funktioniert noch nicht. Telefonleitungen und Faxgeräte gibt es nur sehr wenige und sie bieten auch keine Zuverlässigkeit. E-Mail und Internet sind noch nicht in Sicht. Selbst wer einen Brief von Ost nach West oder West nach Ost verschicken will, muss viel Geduld mitbringen. Es kann bis zu drei Wochen dauern, bis die Post ankommt.

Als Volontär bin ich im November 1990 bei der Rheiderland-Zeitung „geparkt“. Erst Anfang Dezember geht es nach Wolgast. Die Landkreise Leer und Wolgast sind zwischenzeitlich Partnerkreise und es gibt gegenseitiges Interesse an aktuellen Informationen. An einem dieser Tage sitzen wir in der Redaktion zusammen und besprechen, wie wir es wohl hinbekommen, dass ich regelmäßig Nachrichten aktuell aus dem Osten für die Leser im Rheiderland veröffentlichen kann. Das große Problem: Wie kommen die Informationen zügig nach Ostfriesland?

Irgendwann kommt dann in der Runde, zu der der damalige Chefredakteur Dr. Faupel gehört, einer auf eine Idee: Wie wäre es denn damit, Brieftauben für den Transport einzusetzen. Die Nachrichten auf einen kleinen Zettel schreiben, am Bein der Taube befestigen und dann ab damit von Wolgast ins Rheiderland. Im ersten Moment klingt das komisch, doch schnell herrscht Einigkeit: Das ist ein Versuch wert. Dr. Faupel hat dann eine weitere Idee: In Wymeer wohnt Jan Bruins. Der ist gerade bei einem Wettbewerb der schnellste Postbote Niedersachsens geworden und – das ist die wichtigste Information – ist Brieftaubenzüchter. Schnell wird der Kontakt zu Jan Bruins hergestellt und der „rasende Postbote“ ist begeistert. Aus einer Idee wird ein konkreter Plan. Erneut ist es Dr. Faupel, der überzeugt ist, dass so eine Geschichte deutschlandweit für Aufsehen sorgen wird. Er nutzt seine Kontakte zur Deutschen Presse Agentur (dpa) und wenige Tage später ist dann ein Fotograf und ein Redakteur bei Jan Bruins zu Gast. Jan – wir duzen uns seit dieser Zeit – stellt sich mit seiner humorigen Art als Glücksgriff heraus. Er macht alles mit, so auch den Fotografenbesuch in seinem Taubenstall. Zu dritt klettern wir hinein und der Fotograf der großen Agentur hat klare Vorstellungen. Jan möge seine Postmütze aufsetzen und versuchen, eine Taube bei ihm auf der Schulter zu setzten oder sie festzuhalten. Fotoverdichtung ist das, lerne ich. Viel zu sehen und wenig unnütze Fläche auf dem Foto. Es dauert ein wenig, dann ist das gewünschte Motiv im Kasten.

Die Tage danach werden spannend. In vielerlei Hinsicht. Als dann die Geschichte bei den Agenturen über den Ticker läuft, steht in der Redaktion das Telefon nicht mehr still. Und Jan bekommt Anfragen von Radio- und Fernsehsendern aus der gesamten Bundesrepublik. Der schnellste Postbote Niedersachsens beweist dabei viel Humor. Er kann aus diesen Tagen viel erzählen. Mir bleibt in Erinnerung ein Interview, dass er frühmorgens dem NDR-Radio gegeben hat. Berechtigterweise fragt der Moderator, wie denn Jans Arbeitgeber, die Post darüber denkt, dass er mit seinen Brieftauben nun einen Konkurrenzzustelldienst betreibt. Jan reagiert gelassen und verneint diesen Gedanken. Das sei ja nicht so. Er fragt damals den Moderator, wie „ich denn an der Brieftaube eine Briefmarke festmachen und diese dann abstempeln soll“. Mit so viel Schlagfertigkeit hat der Moderator nicht gerechnet. Später im Jahr 1991 ist dann das Fernsehen in Wymeer, Weener und Wolgast zu Gast und macht einen Film aus der Geschichte. Das, was damals bei Tele 5 gezeigt wird, ist aber wohl nicht mehr verfügbar. Gut so, denn ich bin damals bei dem Interview mit den Fernsehleuten sehr nervös – ganz zu schweigen von meiner Optik – eine der grausamsten farblichen Kombination mit Jackett, Krawatte und Hemd .

Die Geschichte mit den Brieftauben war übrigens kein PR-Gag. Vier Tauben – Helmut, Lothar, Sabine und Rita – sind sie in Anlehnung an Bundeskanzler, Bundestagspräsidentin, DDR-Ministerpräsident und Volkskammer-Präsidentin getauft worden – sind tatsächlich in Wolgast aufgestiegen und hatten Nachrichten an den Beinen. Allerdings stellte sich heraus, dass die Flugrichtung von Ost nach West nicht unbedingt eine Spezialität war. Insofern wurde die Brieftauben-Post-Airline umgehend wieder eingestellt.

Für Jan Bruins, der schon damals gerne fotografierte und den im Landstrich zwischen Ems und niederländischer Grenze wohl fast jeder kennt, ist aus dieser Aktion vor mittlerweile über 30 Jahre eine dauerhafte Beziehung zur Rheiderland-Zeitung geworden. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm. Ich habe damals den Lokalsportteil des „Bladdje“ organisiert und Sonntag für Sonntag Fotos und Berichte gemacht. Er fragte zaghaft an, ob er sich mal mit Sportfotos versuchen könnte. Das Ergebnis ist bekannt – die Fotos, die Jan seit diesem Tag für die RZ im Lokalen und im Sport gemacht hat, dürften in die Tausende gehen.

Holger HartwigDie Brieftaube als deutsch-deutscher Postbote