DIE DRUCKLATERNE

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Es ist ein „lausiger“ Sonntag, dieser 2. Dezember 1990. Es ist der Tag der ersten Bundestageswahl im vereinten Deutschland. Und der Tag, an dem ich mich mit einem vollbepackten VW Golf auf den Weg nach Wolgast mache. Nun geht es also richtig los, das Abenteuer in der ehemaligen DDR. Was wird mich erwarten im „wilden Osten“? Wie wird es sein, morgens im grauen Wolgast fern der Heimat aufzuwachen? Wie werden die Menschen auf den jungen Journalisten aus dem Westen reagieren? Das sind nur einige der Fragen, die mich bis zur Ankunft vor den Toren Usedoms sechs lange Autostunden – etwa 600 Kilometer teils über „Buckelpisten“ bei Regen und Schnee – beschäftigen werden.

Bevor es mittags in Leer losgeht, heißt es Abschied nehmen von meinen Eltern und meiner Freundin. Auch bei meiner Oma – sie ist damals 83 – schaue ich natürlich vorbei. Sie findet es – so erfahre ich viele Jahre später von meinem Vater – gar nicht gut, dass ihr Enkel nun in die Zone zu den Russen geht. Die Folgen eines Krieges vergisst man halt ein Leben lang nicht. Wie es zu erwarten war, hat Oma – wie immer – auch etwas für mich zum Mitnehmen. Dieses Mal sind es Bonbons, Kekse und eine kleine „Drucklaterne“. „Drucklaterne“ – so nannte sie immer ihre Taschenlampe. Ich schaue sie etwas verwundert an. Bonbons und Kekse – na klar, wer weiß, wo und ob ich die im „wilden Osten“ bekomme und schließlich soll es der Enkel ja gut haben. Aber eine „Drucklaterne“?
Die ersten Tage machen deutlich, wie anders das Leben und das Zeitungsmachen ist. Über die Kekse und die Bonbons freue ich mich jeden Tag, die „Drucklaterne“ habe ich unbeachtet im Kofferraum liegen lassen. Es wird in „Dunkeldeutschland“ im Dezember nicht nur jeden Tagen gegen 15.15 Uhr dunkel, sondern auch das einzige Telefon, das theoretisch zur Verfügung stehen würde, wird um diese Zeit „umgeschaltet“. Dann wird aus der Nummer wieder ein Anschluss für einen Privathaushalt. An Faxgerät, Handy, E-Mail oder gar Internet ist noch nicht zu denken. Die einzige Art zu kommunizieren, ist den direkten Kontakt zu suchen.
Nach wenigen Tagen bekommen wir dann tatsächlich auch einen Brief von einem Leser unser damals noch Wochenzeitung. Er schreibt uns, dass die Zustände in der Turnhalle am Hafenbahnhof und im Sport schwierig seien. Wenn wir Interesse an Informationen hätten, dann sollten wir abends nach 17 Uhr beim ihm zuhause klingeln. Er wohnt in der Wolgaster Plattenbausiedlung.
Natürlich mache ich mich schon bald auf den Weg. Es ist – dunkel. Nur wenige Straßenlaternen leuchten. Mit Mühe finde ich das Haus, in dem der Informant wohnt. Dann stehe ich vor einem der Eingänge – und es ist weiterhin sehr sehr dunkel. Beleuchteter Eingang? Fehlanzeige. Beleuchtete Klingelschilder mit den Namen, so wie es in der ostfriesischen Heimat selbstverständlich ist? Wo denke ich hin… Einfach mal auf irgendeine Klingel drücken? Möglich. Aber dann schießt es mir durch den Kopf: Omas „Drucklaterne“. Ich gehe zu meinem Auto zurück und hole die kleine Taschenlampe aus Metall und mit rotem Kopf. Natürlich hatte Oma auch die Batterien geprüft, ein Knopfdruck genügt und es
wird mir mein Weg ausgeleuchtet. Ich finde den richtigen Klingelknopf, ein interessantes Gespräch mit vielen Informationen, die ich in den Wochen danach für Berichte verwenden kann, folgt. Kurzum: Oma hat´s geahnt, was auf mich warten könnte. Danke.
Ach ja, die Turnhalle am Hafenbahnhof sehe ich mir dann natürlich auch an. Und ich merke erneut, dass es eben alles etwas anders ist in der ehemaligen DDR. Die Turnhalle ist eine umgebaute Halle der Peene-Werft. Soweit ja denkbar. Aber: Sie wird wohl die einzige Sporthalle bleiben, die ich in meinem Leben gesehen habe, bei der auf dem Spielfeld mehrere tragende Pfeiler stehen. Muss man halt beim Fußball drum herumspielen – denke ich.


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    Holger HartwigDIE DRUCKLATERNE