Die Kolumne: Das bürokratische „Durchstarten“ für kleinste Corona-Projekte

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Besser spät als nie – das mag man den Politikerinnen und Politikern des Kreistages Leer zurufen, wenn man auf die Tagesordnung der jüngsten Sitzung des Ausschusses für Jugendhilfe schaut. Das Gremium wird über einen Antrag beraten, den die SPD, Linke und Grünen gemeinsam gestellt haben – und deren Beschlussfassung angesichts der Mehrheitsverhältnisse ein Selbstgänger werden dürfte. Worum geht es? Um das Thema, dass seit zwei Jahren jeden von uns beschäftigt: die Corona-Pandemie. Das drei Parteien im Kreistag wollen jetzt aus dem knapp 400 Millionen-Euro-Kreisetat satte 150.000 Euro für ein Sofortprogramm für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, auf den Weg bringen. Unter dem Titel „Durchstarten nach Corona!“ sollen anerkannte Träger der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch die Gemeinden des Landkreises und gemeinnützige Vereine Unterstützung bekommen.

Durchstarten nach Corona klingt erst einmal gut. Befremdlich wird es, wenn es um die Vergabe der Mittel geht. Ein Vertrauensbeweis in die Arbeit der Kreisverwaltung wäre es, wenn die Kompetenz des Jugendamtes des Kreises und des Kreisjugendpflegers wertgeschätzt würde und diese entscheiden, was sinnvollerweise gefördert werden soll. Aber hoch lebe der Vorgang: Es muss eine mit Politikern besetzte Auswahlkommission her. Ihr gehören drei Kreistagsmitglieder, der Kreisjugendpfleger und die Chefin des Jugendamtes an. Nichtöffentlich soll dieses Gremium tagen. Und los gehen soll es auch erst mit der Vergabe von 50.000 Euro in einer Sitzung am 15. Juni. Der zweite Teil des Geldes wird dann Mitte November vergeben. Ein Tempo fürs Durchstarten sieht anders aus…

Auch die Mittelvergabe ist bis ins Detail bürokratisch geregelt. Selbstverständlich dürfen die Antragssteller nicht schon vorher mit ihrem Projekt begonnen haben. Gefördert wird auch nur, was von anderen Stellen nicht unterstützt wird. Wohlgemerkt, dabei geht es um eine maximale Fördersumme von 8.000 Euro je Antrag. Das hat ein bisschen `was von Gießkannenprinzip: Für möglichst viele einen kleinen Tropfen.

Professionelle Anbieter, die sich bereits heute gegen Kinderarmut engagieren, können mit dieser Summe keine großen Sprünge machen. Allein die Personalkosten für den Antrag und Dokumentation werden einen Teil des Fördergeldes in Anspruch nehmen. Dieser Teil ist „weg“, bevor die erste Unterstützung von Jugendlichen in der Praxis stattfindet. Und bei den Vereinen? Da könnten die kleinen Summen viel bewegen, beispielsweise durch freie Sport- und Freizeitangebote. Aber jeder Ehrenamtliche weiß, was es bedeutet, einen Förderantrag zu stellen, diesen dann begründen, abrechnen und am Ende ausführlich dokumentieren zu müssen. Vielleicht wäre es ja auch ein Weg gewesen, vor allem Vereinsvertretern das Signal zu geben: Die Kreisverwaltung hilft und unterstützt bei der Bürokratie. Man darf also gespannt sein, wer nun Anträge stellt und was bei der Zielgruppe Kinder und Jugendliche am Ende Positives ankommt. Auf jeden Fall setzt der Antrag immerhin das symbolische Signal aus der Kreispolitik: Wir kümmern uns…

Nur zu kritisieren, wäre jedoch nicht fair. Erfreulich ist, dass das rot-rot-grüne Bündnis auch mittelfristige Maßnahmen in Angriff nehmen will. Dabei geht es um eine Bestandanalyse. Die Verwaltung soll mit externer Hilfe eine „Lebenslagen- und sozialraumorientierte Situationsanalyse von Kindern und Jugendlichen“ (Kosten 25.000 Euro) und eine Bestandsaufnahme zur bisherigen Umsetzung des 2015 erstellten „Leitbildes für die Kinder- und Jugendpolitik im Landkreis Leer“ (15.000 Euro) erarbeiten. Diese Analysen sollen noch 2022 vorliegen, um dann im kommenden Jahr einen Vorschlag über die Fortschreibung der „Sozialraum-orientierten Jugendhilfeplanung“ zu beraten. Dieses Geld dürfte mehr als gut investiert sein, denn die Zahlen des jüngst vorgelegten Haushalts 2022 haben aufgezeigt, dass es vor allem die Sozialkosten sind, die explodieren und die Luft zum Atmen nehmen. Und wenn dann – was der Kreis in anderen Bereichen mit der Stabstelle Ehrenamt und Freiwilligenagentur gut praktiziert – künftig gemeinsam mit den vielen Ehrenamtlichen in den Vereinen nach niederschwelligen Angeboten mit unbürokratischer Mitfinanzierung gesucht würde, dann wäre, um ein Beispiel zu nennen, so manche Turnhalle mehr auch an Wochenenden für kinder- und jugendfreundliche Familien- und Freizeitangebote geöffnet.

Symbolfoto: CPC/Pexels.com

Holger HartwigDie Kolumne: Das bürokratische „Durchstarten“ für kleinste Corona-Projekte