Die etwas mehr als 172.00 Einwohner im Kreis Leer können sich freuen: In diesem Jahr wird der Kreis etwas über 50 Mio. Euro in die Infrastruktur investieren. Im Vergleich zum Vorjahr sind das 18,5 Mio. Euro mehr. In Relation zu vor fünf Jahren ist es sogar fast fünfmal so viel. Der Ausbau des Glasfasernetzes ist der größte Brocken und auch in Straßen wird wieder deutlich mehr investiert. Auch die Fakten bei den laufenden Aufwendungen („Ergebnishaushalt“) verspricht bei einem Gesamtvolumen von fast 400 Mio. mit immerhin einem Überschuss von 100.000 Euro viel Gutes. Auch ist es gelungen, die Gesamtverschuldung vom Höchststand 2015 um insgesamt etwa 45 Mio. Euro auf aktuell 91,1 Mio. zu senken. Also alles bestens? Mitnichten.
Es ist – so paradox es klingt – die gute Lage in der Wirtschaft, die trotz der Pandemie den Kreis und die Kommunen derzeit bei ihren Finanzen durchatmen lässt. Die Gewerbesteuereinnahmen liegen auf rekordverdächtigem Niveau. Optimisten sagen, das bleibt so. Läuft ja. Pessimisten hingegen befürchten, dass der große Einbruch noch kommt, wenn nach den teils üppigen Corona-Hilfen für die Wirtschaft und jetzt seit Jahren andauernder Hochkonjunkturphase die Unternehmen mit Absatzschwierigkeiten, steigenden Materialkosten und immer mehr Personalmangel zu kämpfen haben. Der Kreiskämmerer Andre Willems baut vor: Bis 2025 kalkuliert er vorsichtig schon einmal mit einem Minus von 16,60 Mio.
Der Blick in die 2022-Zahlen des Kreises sind kein Blick in eine Glaskugel. Sie sind ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn was da teilweise an Daten und Fakten steht, kann einem Angst und Bange machen. Die Sozialausgaben explodieren. Etwa 66 Prozent (!) aller jährlichen Ausgaben des Kreises wandern in diesen Bereich – und das in Zeiten einer funktionierenden Wirtschaft mit gleichbleibend im Vergleich zu den 2000er Jahren geringen Zahlen bei Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern. Es sind dieBelastungen durch Transferaufwendungen, speziell Aufwendungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe und Leistungen nach dem Bundesteilhabegesetz. Hier kennen die Kosten seit vielen Jahren nur eine Richtung: steil nach oben. Eine Inobhutnahme eines einzigen jungen Menschen kostet da schon mal bis zu 20.000 Euro – im Monat. Die Kosten für Hilfen zur Erziehung sind in zehn Jahren von 10 auf 18,8 Mio. Euro gestiegen, die Ausgaben für die Hilfen für junge Volljährige von 0,59 auf 6,57 Mio. Euro. Der größte Anteil aller Steigerungen entfällt auf die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII für seelisch behinderte bzw. von seelischer Behinderung bedrohte Kinder/ Jugendliche. Hier beträgt das Wachstum von 34,64 auf 69 Mio. Euro in zehn Jahren. Im ambulanten Bereich, wozu Kosten für Integrationshelfer sowie Autismustherapien zählen, sind nach Kreisangaben hohe Fallzahlensteigerungen zu verzeichnen. Der Ansatz hierfür musste daher um 0,48 Mio. € auf 3,4 Mio. € erhöht werden Und dann sind da noch die Kosten für die Betreuung im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, die der Kreis nicht vom Bund oder Land erstattet bekommt. Auch sie steigen kontinuierlich. 15 Mio. waren es 2011, in diesem Jahr sind es 44,35 Mio. Euro.
Insgesamt müssen Kreis und Kommunen immer mehr zahlen. Zum einen, weil Bund und Land sich an Betreuungskosten nicht ausreichend beteiligen, zum anderen aber auch, weil die „Fallzahlen“, so heißt das im Amtsdeutsch, teilweise steigen. Damit ist nichts anderes gemeint, dass vor allem immer mehr Kinder- und Jugendliche mehr Kosten verursachen, weil – Entschuldigung für die Deutlichkeit – bei der Erziehung etwas schiefgelaufen bzw. die Betreuungsangebote politisch gewollt immer mehr ausgebaut werden.
Man muss es klar sagen: Wenn die Kosten in diesen Bereichen weiter explodieren und nicht von Bund oder Land getragen werden, nehmen sie dem Kreis und auch den Kommunen die Luft zum Atmen. Und sie verhindern, dass mehr Geld für so wichtige freiwillige Leistungen – sei es für die Sport- oder die Kulturförderung – bereitstehen. Die Vereinsvorstände spüren das bereits heute.
Ach ja, mit dem neuen Haushalt – so der vom Kreistag in Kürze final mit seinen 719 Seiten beschlossen wird, wovon auszugehen ist – wird es auch ein Novum geben. Erstmals gibt es eine gesplittete Kreisumlage. Die Stadt Leer wird mehr Kreisumlage zahlen. Während alle anderen Kommunen weiter 52 Prozent von ihrer Steuerkraft der Gemeinden sowie ihren Schlüsselzuweisungen „abgeben“ müssen, muss Leer 58,06 Prozent zahlen. Und warum ist das so? Die Stadt hat den Vertrag für die Übernahme der Kinderbetreuung zu Ende Juli gekündigt. Der Kreis hat damit – so ist berechnet – Stand heute 2,98 Mio. Euro Mehrkosten zu tragen. Und dieses Geld holt er sich von der Ledastadt wieder. Auch dieser Umstand zeigt, was in den nächsten Jahren noch auf die Kommunen bei der Frage aller Sozialkosten zukommen könnte und wie um jeden Euro gekämpft wird. Das Hemd ist da jedem näher als die Hose und für den Kreis wird es zunehmend herausfordernder, im gesamten Kreisgebiet gemeindeübergreifend für gleiche Lebensbedingungen zu sorgen.