Die (Bau)Wirtschaft liegt fast am Boden, weil die Kosten steigen und steigen, die Zinsen sich in schneller Geschwindigkeit nach oben entwickeln. Zudem bricht der Konsum durch Rekordwerte bei der Inflation ein. Und was macht die Stadt Leer? Sie beschließt, Weideflächen im Stadtteil Heisfelde zwischen Tulpenstraße, Lupinen-, Distel- und Wollgrasweg bis zur Eisinghauser Straße zu einem modernen, innovativen, ökologisch-nachhaltigen Wohn- und Gewerbestandort zu entwickeln. Und das Ganze wird dann auch noch einstimmig von der Politik beschlossen, ohne dass in den Wochen zuvor – anders als in den vergangenen Jahrzenten meist geschehen – eine Information öffentlich „ausgeplaudert“ wurde. Ist das nachvollziehbar? Ja. Ist das gut so? Ebenfalls ja. Warum?
Die Stadt Leer handelt in der Zeit der Wirtschafts- und Energiekrise antizyklisch. Das ist ein in der Theorie bekanntes Handeln, in der Politik aber eher selten zu finden. Gerade dann, wenn es am wenigsten sinnvoll erscheint, wird investiert. Denn die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Nach jeder Talsohle geht es wieder aufwärts. Darauf setzen die Verantwortlichen in der Ledastadt. In Leer wird dabei „geklotzt“: Die zu beplanende Fläche ist 630.000 Quadratmetern groß – das sind satte 88 Fußballplätze.
Mit Blick auf die Gewerbeflächen, die als Gürtel am Rand des Gebiets entstehen werden, gilt: Nach Jahren der totalen Flaute, als viele Firmen sich weder erweitern noch neuansiedeln konnten, weil es keine Flächen gab, wird wieder Wirtschaftswachstum ermöglicht für Branchen, die nicht so gut für das erweiterte Gebiet in der Benzstraße (ebenfalls beschlossen und mit Fördermillionen abgesichert) geeignet sind. Das hatte Bürgermeister Claus-Peter Horst vor einem Jahr in seinem Wahlkampf vollmundig versprochen. Alle waren neugierig, welches Areal er als gelernter Stadtplaner im Blick hatte – jetzt wird es Realität.
Die für neuen Wohnraum auserkorene ist einige der wenigen in der Stadt, die überhaupt entwickelt werden kann. Leer hat im Westen und Süden mit Marschboden einen eher schlechten Baugrund, und im Osten mit Wallhecken-Strukturen, die man nicht zerstören will. Zwar steht diese Ausdehnung im Gegensatz zu der Ankündigung von Stadtbaurat Rainer Kleylein-Klein, dass die Stadt in die Höhe wachsen soll, aber nun soll in den nächsten 10 bis 20 Jahren dort ein Quartier entstehen, dass sich mit der Innenstadtentwicklung und dem Gedanken der Nachhaltigkeit vereinbaren lässt. Wie viele Grundstücke das Gebiet haben wird, steht nach der ersten politischen Entscheidung natürlich noch nicht fest. Klar ist hingegen: Das Areal soll nicht nur Einfamilienhäuser haben, sondern auch modernen und bezahlbaren Wohnraum in Mehrfamilienhäusern. Man darf gespannt sein, wie das planerisch gelingt – ein zweites „Evertskamp“ ist auf jeden Fall zu vermeiden. Dort gab es nach der Fertigstellung in den 1990er Jahren lange Diskussionen, dass „Hochhäuser“ mit zwei bis drei Stockwerken direkt neben schicken Einzelhäusern errichtet wurden.
Die Stadt wäre gut beraten, sich bei der Entwicklung des Quartieres deutschlandweit umzusehen. Dann ist das Ziel des modernsten Stadtteils in jeglicher Hinsicht erreichbar. Gerade in den Metropolen wird viel Geld in die Hand genommen, um durch umfangreiche Ideenwettbewerbe mit Profis aus aller Welt die besten Lösungen zu entwickeln, die für manch einen heute noch absolute Utopie erscheinen. Es geht um eine lange Liste an Zukunftsthemen: nachhaltige nicht-fossile Energieversorgung bzw. auch -erzeugung, soziale Vereinbarkeit verschiedener Wohnformen für jedes Alter, ausreichend Allgemeinflächen für die Lebensqualität, E-Mobilität, digitale und moderne Sicherheitstechniken mit Steuerung der Beleuchtung, Entsorgung etc. Auch bei der Wahl der Baustoffe gehen die Kommunen mittlerweile teilweise so weit, dass sie die Wiederverwertung von Rohstoffen aus Abrissen („Kreislaufwirtschaft“) und ökologische Fassaden- und Dachgestaltungen mit Grün vorschreiben. Hauptsache, der Bau und die Erschließung bleiben für ostfriesische Verhältnisse bezahlbar. Wie das gelingen kann? – Schon heute alle Förderprogramme wälzen, die die öffentlichen Teile „subventionieren“. Insgesamt also eine mehr als spannende Herausforderung für die Leeraner Stadtverwaltung. Man wächst bekanntlich an den Aufgaben.
Einen kleinen Wermutstropfen bringt diese Stadtentwicklung dennoch mit sich: Wie schon seit über 20 Jahren, wird die Stadt nicht selbst als Entwicklungsträger auftreten. Das bedeutet: Eine der wichtigsten Einnahmequellen neben der Gewerbesteuer bleibt ein weiteres Mal ungenutzt. Andere Städte – so Papenburg mit dem Kapitänsviertel, wo mehrere hunderte Grundstücke erschlossen und mit Ertrag verkauft wurden – nutzen den Verkauf vom Grundstücken als Einnahmequelle. Immerhin: Das neue Gebiet wird mit der Niedersächsischen Landgesellschaft (NLG) erschlossen, die dem Land Niedersachsen, Kommunen sowie einigen Banken gehört, und daher nicht gewinnorientiert agiert. Das wird sich auf die Preise pro Quadratmeter gut auswirken – in Zeiten steigender Baukosten ein wichtiger Faktor für Bauherrn.
Erfreulich ist, dass die Stadt mit der NLG einen Partner hat, der auf Partnerschaft setzt. Das betrifft vor allem die Mitsprache bei der Vergabe der Flächen. Vor allem aber muss sie nun ihre Hausaufgaben machen, um mit ihrem Einfluss durch Bau- und Genehmigungsrecht zu erreichen, dass das neue Quartier wirklich zu den modernsten in jeglicher Hinsicht weit und breit wird. Man darf also gespannt sein, was am Stadtrand ab frühestens Mitte 2024 aus dem Boden „wachsen“ wird.