Sie steht in keinem Lehrbuch für Betriebswirtschaftslehre und deshalb träumt von seiner Situation jeder Unternehmer: Die Auftragsbücher sind voll, die Anfragen laufen ein und die freie Auswahl an Kunden ist groß. Bei den Handwerksunternehmen im Baubereich im Kreis Leer und auch andernorts ist das aktuell kein Traum, sondern Realität.
Mit konkreten Zahlen zur Auftragslage tun sich alle Unternehmer schwer. „Gut zu tun“, „Passt“, „Sind zufrieden“ – das sind die kurz-knackigen Standartantworten. Wer heute einen Handwerker sucht, der weiß ein Lied davon zu singen. Manch ein Bauunternehmen nimmt bereits heute keinen Auftrag mehr für das gesamte Jahr 2022 an. Wer für eine Reparatur oder kleine Sanierungsarbeiten einen Fachmann benötigt, der braucht vor allem eines: Geduld, Geduld, Geduld.
Konkrete Zahlen sind zur Situation nur schwer zu bekommen. Nur mit etwas Zögern gibt der Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Leer-Wittmund, Bastian Wehr, eine Einschätzung ab. Er sagt, dass aktuell etwa 20 Prozent mehr Aufträge nachgefragt werden als es Kapazitäten im Markt gibt. Im Klartext: Jede fünfte Anfrage kann nicht mehr (zeitnah) bedient werden. Hinzu kommt, dass durch die Pandemie und die weltwirtschaftliche Entwicklung auch Rohstoffe und Materialien immer knapper und damit teurer werden. Allein in 2021 gab es bereits drei große „Preissteigerungsrunden“, sagen Experten.
Nun lernt jeder Unternehmer, dass bei guter Auftragslage die Kapazitäten angepasst werden könnten. Aber auch das funktioniert im Kreis Leer leider nicht. Die Zahl der Auszubildenden, die sich für einen Handwerksberuf entscheiden, ist tendenziell rückläufig. Die Unternehmen würden – auch mit Blick auf die Altersstruktur der Gesellen – mehr ausbilden, finden aber nicht ausreichend Interessenten. Wie groß hier die „Lücke“ ist bzw. wie viele Gesellen in der Region bereits heute fehlen, wird statistisch nicht erhoben.
Fest steht: Selbst die Bezahlung des Führerscheins, kostenlose digitale Ausstattung oder viele andere Zubrote helfen im Wettbewerb um die jungen Leute oft nicht. Handwerk ist – vor allem auch aus Sicht vieler Eltern – nicht sexy. Dabei, so betont Wehr, biete das Handwerk alle Chancen: langfristig sicheren Arbeitsplatz, (über)tarifliche Bezahlung und – für den, der es will – exzellente Qualifizierungsmöglichkeiten vom Meister bis zur akademischen Weiterbildung zum Betriebswirt des Handwerks. Von der Chance, sein eigener Chef zu werden, mal ganz abgesehen. Und das in Zeiten, wo sich auch immer höherer Preise am Markt durchsetzen lassen, weil es – und das wird sich nicht mehr ändern in den kommenden Jahren – an ausreichend Angebot fehlt.
Die Lösung? Schwierig. Schon jetzt fehlen die Fachkräfte. Tendenz steigend. Es bedarf eines Wandels der Wahrnehmung des Handwerks in der Öffentlichkeit. Den Spruch „Handwerk hat goldenen Boden“ kennt jeder. Früher galt das vor allem für die Unternehmer, heute für jeden, der mit seinen Händen bzw. auch immer mehr mit maschinelle Unterstützung arbeitet. Nur in den Köpfen sind die steigenden Löhne und der Umstand, dass das Handwerk perspektivisch so krisensicher ist, wie nur wenige Branchen, noch nicht angekommen. Dafür zu sorgen, ist die Hauptaufgabe aller Betriebe und ihrer Dachverbände. Es braucht dafür jedoch künftig deutlich mehr Kreativität als z.B. die klassischen Infotage an Schulen oder Berufsmessen.
Symboloto: Life of pix/pexels.com