„Wenn Du Zeitung machst, dann musst Du ein wenig verrückt sein“ – als ich diesen Satz ganz zu Beginn meiner Redakteurslaufbahn von einem „alten Hasen“ höre, habe ich damals gedacht: Na, was meint der denn damit? Es dauerte nicht lange, bis ich ihn verstanden hatte. Zeitung machen bedeutet, jeden Tag bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das Tageswerk abschließen zu müssen. Ganz egal wie. Ganz egal, was im Laufe des Tages passiert.
Später, wenn es darum ging, Volontäre einzustellen, habe ich den erfahrenen Redakteur oft zitiert und abgefragt, wie es um die Begeisterung für die Zeitungsmache steht. Ich bringe in den Gesprächen immer den Vergleich mit dem Supermarkt. Der hat jede Menge Regale und wird morgens gefüllt und meist stehen die Sache immer an einem Ort. Vielleicht wird einmal nachgefüllt oder in bestimmten Bereiche etwas umgestellt. Bei der Zeitungsmache ist es anders. Dort stehst Du jeden Morgen vor vielen leeren Regalen und musst dir überlegen, mit was du jeden Tag jedes Regal – sprich jede Zeitungsseite – mit was befüllst. Wenn es nur das wäre, dann wäre das allerdings langweilig. Denn beim „Supermarkt Zeitung“ können gerade alle Regale fast gefüllt sein – und kurz vor Druckbeginn kracht es auf der Autobahn, brennt die Schule oder ein Politiker tritt zurück. Und was dann? Der Inhalt des ersten Regals wird ausgestaucht. Er wandert in das zweitwichtigste. Das was dort steht, wandert in das dritte Regal und so weiter und so weiter. Kurzum: Es ist absolute Schnelligkeit beim Texte schreiben und Flexibilität gefragt. Der Zeitpunkt des Andrucks ist unerbittlich…
Im „wilden Osten“ lerne ich dann das „Verrückt sein“ in ganz anderen Versionen kennen. Es ist Ende August 1991. Mein Chef hat sich überlegt, dass es ab 2. September auch eine Tageszeitung im Nachbarort in Anklam geben soll. Kurz bevor ich mich in drei freie Tage – mein Vater hat Geburtstag – verabschiede, ruft er mich zu sich ins Büro. Ich wisse ja, dass der Anklamer Anzeiger in Kürze auf den Markt kommen soll. Und wer würde dafür besser als Redakteur in der Aufbauphase in Frage kommen, als ich, meint er. Ziel sei, jeden Tag die Titelseite mit lokalen Inhalten und darüber hinaus zwei Innenseiten mit Beiträgen aus und um Anklam zu füllen. Viel Ehre, denke ich. Na ja, gleich mal klären, wie den die Rahmenbedingungen sein werden. Haben wir ein Redaktionsbüro in Anklam? Noch nicht, aber drei Tage später vielleicht. Wird das Büro einen Telefonanschluss haben? Nein. Wer wird mit mir nach Anklam mitkommen? Eine Volontärin, zeitweise. Werden wir zwei Autos (der Kreis Anklam ist der dünn besiedelstse Kreis Deutschlands und 30 Kilometer entfernt haben)? Nein, eines müsse reiche. Handys und Laptops gibt es ebenso nicht wie das Internet oder Digitalkameras. Und bis wann muss abends alles fertig sein? Spätestens 19 Uhr. Die „Mission Anklam“ ist für mich angesichts der Rahmenbedingungen mehr als verrückt. Ich denke an die Worte des „alten Hasen“ aus den ersten Tagen. Eine Wahl, ob ich die Mission antrete, habe ich nicht.
Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich in die ostfriesische Heimat. Wie kann das funktionieren? Woher zu zweit in einem Ort, in dem ich niemanden kenne, kein Telefon und im Prinzip nichts habe, jeden Tag drei Zeitungsseiten füllen? In Ostfriesland wird der Schlachtplan entwickelt, die Volontärin bekommt Instruktionen, was für Termine und Themen für die erste Woche vorbereitet werden können. Es ist jetzt der tägliche Supermarkt, bei dem nicht einmal feststeht, ob und was für die Regale in Frage kommt…
Als ich dann einen Tag vor dem Start mittags zurückkomme, werde ich vom Chef freudig empfangen. Er hat ein Büro gefunden, drückt mir den Schlüssel in die Hand und sagt. „Nimm aus der Redaktion hier einen Rechner und Drucker mit, dann könnt Ihr Euch beim Schreiben in Anklam abwechseln.“ Abends geht es mit dem Nötigsten erstmals nach Anklam – das Büro „einrichten“. Es ist ein Hintereingang eines kleines Hauses, nicht gerade zentral gelegen, aber immerhin funktionieren Strom, Wasser und WC.
Das, was sich dann die nächsten Tage abspielt, ist bis heute für mich wie ein großes Wunder. Ich finde irgendwie jeden Tag einen Gesprächspartner. In der ersten Woche bin ich beim Antrittsbesuch beim Bürgermeister – und entlocke ihm neben vielen Themen zur Stadtentwicklung, dass die Lufthansa plant, eine Boeing auf den Namen Anklam zu taufen. Es ist das Gedenken an Otto Lilienthal. Oder ich bin beim Wirtschaftsförderer des Kreises Anklam. Erst ist es sehr langweilig, dann bohre ich nach. Ergebnis: Die Titelgeschichte, dass ein Investor für eine Zuckerfabrik bereit steht und schon erste Planungen voll im Gange sei. Irgendwie klappt es Tag für Tag, dass wir – die Volontärin macht Portraits, Interviews, stellt Vereine vor und organisiert viele Kleinigkeiten – jeden Tag mit den Inhalten des Nordkuriers (ehemalige Bezirkszeitung) und dem Anklamer Tageblatt (eine Neugründung wie wir) mithalten können.
In Erinnerung bleibt mir, dass Zeitungmachen ohne Telefon und viel zu Fuß möglich ist. Ebenso wie die „Rennfahtren“ mit dem VW Golf allabendlich über die Dörfer zurück nach Wolgast. Jede Minute zählte, denn die Texte auf Diskette mussten ja noch durch den Schriftsetzer in Form gebracht werden und dann per Klebeumbruch auf die Seite platziert werden. Die schwarz-weiß Filme mussten entwickelt werden, Fotos auf Papier und dann für den Druck aufbereitet werden. Jeden Tag ein riesengroßes, irres, unbeschreibliches Abenteuer unter Zeitdruck. Heute ist das kaum mehr vorstellbar.
Ein Highlight ist rückblickend die Stadtverordnetenversammlung in der zweiten Woche in Anklam. So heißt damals der Stadtrat und er tagt immer um 17 Uhr. Eine knappe Kiste, denn um 19 Uhr muss ja alles fertig sein, damit die Zeitungskiste auf den Weg zur Druckerei nach Potsdam (300 Kilometer entfernt) gebracht werden kann. Wir haben einen Plan. Die Tagesordnung verspricht in den ersten Punkten interessant zu werden. Wir vereinbaren, dass ich bis 18 Uhr vor Ort bleibe, dann nach Wolgast rase um dort den Aufmacher bzw. die gesamte Titelseite zu schreiben. Ob das klappt? Wir wissen es nicht. Es wird schon. Kurz vor 18 Uhr geht es nach Wolgast. Ich weiß, dass ich im Auto die Texte in Gedanken „vorschreiben“ muss – sonst wird das nichts. Am Ende bleiben etwa 45 Minuten zum Schreiben, ich überziehe etwas. Der Fahrer zur Druckerei sagt, er schaffe das schon, die Verspätung wieder aufzuholen. Ein Kollege liest das, was ich geschrieben habe, Korrektur. Zwei andere Kollegen verarbeiten das Material für die Innenseiten. Das läuft wie geschmiert. Als die Kiste mit den Seiten sich dann auf den Weg macht, stehen auf der Titelseite ein Aufmacher, ein weiterer Text und ein Kommentar. Geschafft! Wieder einmal.
Das Besondere ist: Es dauert keine zwölf Stunde, dann geht es wieder mit leeren Seiten von vorne los. Am Tag nach der Stadtverordnetenversammlung steht ein Pressegespräch an. Als ich als letzter komme, begrüßt mich der Kollegen des Nordkuriers mit den Worten: „Respekt, als Neuling so eine Berichterstattung. Da hast Du ja wohl eine Nachtschicht eingelegt…“. Ich antworte nur kurz und knapp „Ja“ und denke mir „Wenn der wüsste…“. Zeitungsmachen – da man muss halt ein bisschen verrückt sein. Gleichzeitig sind es aber auch diese Umstände (nun gut, nicht immer so außergewöhnlich wie damals in Wolgast), die einen antreiben. Zeitungmachen (oder heute auch digitale Nachrichten) ist eine Leidenschaft. Es ist die immer schneller werdende Jagd nach interessanten Themen und Texten. Und irgendwie ist bisher die Zeitung immer rechtzeitig fertig geworden. Die Portion Verrücktheit macht´s möglich. Geht nicht – das gibt es halt bei Zeitungsleuten, die mit Begeisterung, Mut und Erfahrung agieren nicht. Und das ist gut so, denn alles andere wäre über die vielen Jahre wahrscheinlich auch langweilig geworden…