Nikolauskonzert des Vereins Junger Kaufleute – Eric LeSage und Olivier Latry überzeugen
Von Jörg W. Rademacher*
LEER Am Nikolaustag ist die Bühne des Theaters an der Blinke in Leer in rötlich schimmerndes Licht getaucht, in dem sogar die Umrisse des Flügels erkennbar werden, als die beiden Herren aus Frankreich, Eric LeSage und Olivier Latry erscheinen. Schon bei der Verbeugung wird klar: Ihr verschmitztes Lächeln auf der Titelseite des Abendprogramms ist alles, nur keine Pose.
Bei der einleitenden «Hymne» des Belgiers Joseph Jongen, fast genau hundert Jahre alt, ist die Absicht erkennbar, die Zuhörer in eine Klangwelt zu entführen, die im Ostfriesland der Vorweihnachtszeit höchstens bei Märkten wie «Achter d’Waag’» in Leer bei manchen Ausstellern mit historischem Spielzeug noch zu hören ist. Live und gar auf dem Konzertpodium ist diese Musik so selten zu vernehmen wie die große «Petite messe solennelle» des Italiener Gioachine Rossini, die ebenfalls durch Pianoforte und Harmonium begleitet wird.
Es macht heute gar nichts, wenn so mancher nach den winterlichen Tagen Anfang der Woche richtig erschöpft auf diese Musik- und Zeitreise geht, denn sowohl der Pianist als auch der Organist, als welcher Olivier Latry vor allem in der Cathédrale Notre-Dame de Paris amtiert, versteht das jeweilige Geschäft ausgezeichnet, nämlich durch virtuoses Tastenspiel wie durch interessante Registrierung die französische Musik der Romantik in den Konzertsaal des 21. Jahrhunderts zu tragen.
Die Komponisten des Abends, allesamt aus Frankreich oder Belgien – eine Ausnahme bildet nur Beethoven, dessen 5. Symphonie mit ihrem prägnanten 1. Satz den Auftakt nach der Pause bildet – waren einander bekannt, teil verbunden im Lehrer-Schüler-Verhältnis. In Paris wirkend, ob nun an Kirchen oder am Konservatorium tätig, haben sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine ähnliche, auch klangliche Nähe zueinander, wie sie aus dem Spiel von LeSage und Latry aktuell hervorgeht. Sichtlich mehr als nur zwei Musiker, die sich gut kennen, sind sie leidenschaftliche Spieler, hochprofessionell und hochtechnisiert, denn beide nutzen statt Noten auf Papier digitale Geräte. Nur zum Knopfdrücken steht die junge Dame neben dem Pianisten noch auf, wenn allzu viele Noten den zusätzlichen Handgriff unmöglich machen.
Ansonsten schaffen sie klanglich perfekt die Illusion, uns ins Paris von vor 150 bis 100 Jahren mitzunehmen, die auch visuell im Saal vorherrscht. Wer die französische Sprache ob ihres Klangs liebt, zugleich ihr Problem kennt, über viel weniger Wörter als das Deutsche zu verfügen, denen wird in der Überlagerung von Bedeutungen, die das Französische als Ausweg aus diesem Dilemma kennt, die Klangschichten von Pianoforte und Harmonium als musikalisches Pendant ausmachen. Denn auch die französische Musiksprache scheint anders als die deutscher Komponisten sich mehr über Klang- denn über Bedeutungsschichten auszudrücken. Wie gut die beiden Musiker dies verstehen, geht im übrigen nicht nur aus ihrer Interpretation des Symphoniesatzes von Beethoven, sondern auch aus den beiden Ansagen Latrys hervor, der deutsche Namen und Sätze fast akzentfrei ausspricht, während der Name Widor bei ihm ebenso authentisch französisch klingt.
Das Bild von zwei Pariser Lausbuben wird komplettiert durch die Bereitschaft, sich gleich wieder zum Spielen zu setzen, als der Beifall nach den Blumen nicht enden will. Statt sich weiter zu verbeugen, eilen sie zu Pianoforte und Harmonium, nicht ohne die zur Bühnenbeleuchtung passenden Sträuße als zusätzliche Dekoration drapiert zu haben.
Kurzum, die Entführung aus Ostfriesland in ein Paris früherer Zeiten ist vollkommen gelungen. Wer Olivier Latry in Notre-Dame hören möchte, muss vielleicht nur noch ein Jahr warten, wenn die Kathedrale wieder eröffnet werden soll.
Fotos: Fabian Engel /VJK
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