Der erste Blick – und dann wegschauen?

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Von Holger Hartwig*

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn Sie alt – lässt sich nicht verhindern – und gebrechlich – ist nicht auszuschließen – werden sollten? Sie werden jetzt denken: Wie passen diese Gedanken an Pflegenotwendigkeit und das Sterben mit „Leichter leben“ zusammen? – Es passt.

Warum? Wir kennen es aus so vielen Situationen des Alltags: Einen ersten flüchtigen Blick auf ein „blödes“ Thema werfen – das ist ok. Aber dann? Dann ist es das Praktischste, schnell wieder wegzuschauen. Zügig auf das nächste Thema blicken – das kennt jeder, beherrscht (leider) auch jeder. Nur: Ist einmal etwas „angesehen“ und damit ins Bewusstsein geholt, arbeitet es unbewusst im Hintergrund weiter. Der gedankliche „Fluchtmechanismus“ funktioniert nur bedingt. Das Thema Krankheit und Pflege ist spätestens dann wieder im Blickfeld, wenn es ein Familienmitglied oder einen Freund gesundheitlich „umgehauen“ hat.

Der Autor hat dieser Tage erlebt, wie schnell es gehen kann, wenn nicht rechtzeitig alles geregelt wird, weil der „Fluchtmechanismus“ immer wieder greift. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Freund – etwas über 80 – ist noch recht fit. Nach einem Sturz landet er mit einem Oberschenkelhalsbruch in der Klinik. Dort angekommen, stuft man ihn als chronischen Alkoholiker ein und attestiert ihm ein Delirium. Ausschlaggebend sind dabei ausschließlich seine Nierenwerte. Bei der Kommunikation zwischen dem Verunfallten und den Medizinern läuft so ziemlich alles schief, wie es eigentlich nicht vorstellbar ist. Es kommt zu Streitigkeiten und Aggressivität – und der Mann wird für eine Nacht sogar in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Wie sich dort schnell herausstellt, handelt es sich aber um eine „Fehldiagnose“ der Chirurgen im „normalen“ Krankenhaus.

Der Freund hat – aufgrund des Fast-Nierenversagens – geistige Ausfallerscheinungen gehabt und eine behandelnde Medizinerin hat ihn umgehend als verwirrten Greis mit Alkoholproblemen und Aggressivität eingestuft. So hat er schnell seinen Ruf auf der Station „weg“. Dabei ist der Freund alles andere als ein Alkoholiker, er ist sein gesamtes Leben bis ins hohe Alter sportlich aktiv gewesen und auch vor dem Sturz in seiner Wohnung nüchtern. Vielmehr hat die Ärztin dem Mann „zur Ruhigstellung“ Psychopharmaka geben lassen, die jedoch für noch mehr Action zwischen dem Patienten und Stationsmitarbeitenden sorgten. Parallel zur Einweisung in die Psychiatrie wird von der behandelnden Ärztin auch noch der Amtsarzt eingeschaltet, um einen gesetzlichen Betreuer „für den alten dementen Alkoholiker“ zu bestellen.

Warum das so ausgiebig geschildert wird? Ganz einfach: Der ältere Herr hat eine Vertrauensperson, die seit Jahren ein gutes Verhältnis zu ihm hat und man hat sich gegenseitig versprochen, Hilfe anzunehmen und zu helfen. Nur: Der ältere Herr hatte es versäumt, die notwendigen Unterlagen und Dokumente zu erstellen und zu unterschreiben. Keine Vollmachten, keine Patientenverfügung – beides sollte „schon lange gemacht sein“. Die Freundin hat dann nur mit viel Freundlichkeit auf die Ärzte, Pfleger etc. einwirken können und es war in diesem Fall wirklich das Glück, dass der behandelnde Arzt in der Psychiatrie erkannte, dass der alte Herr weder verwirrt noch aggressiv war, sondern dass die falschen Medikamente und die für den ehemaligen Hochleistungssportler äußerst beleidigende Abstempelung zum „Alkoholiker“ und die daraus resultierte abwertende Behandlung durch Pflegekräfte alles durcheinandergebrachten. So hat der Freund dann – nach der Entlassung aus der geschlossenen Psychiatrie und der Rückkehr in die eigenen vier Wände – die Chance bekommen, alles schriftlich für den „Fall der Fälle“ zu regeln.

Beispiele dieser Art, wo zwar „hingeschaut“, aber zu schnell wieder weggesehen wird, gibt es im Leben viele – bei ersten Symptomen einer Krankheit beispielsweise nach dem Motto „Das wird schon nicht so schlimm sein“.

Um leichter Leben zu können, ist es darum von Vorteil, schon beim ersten flüchtigen Blick auf eines der nicht so angenehmen Themas ins Handeln zu kommen. Warten und wegschauen macht es meist weder einfacher, noch besser – und nicht immer ist das Ende so erfreulich, wie es bei dem älteren Herrn und seinem Klinik-Aufenthalt der Fall war.

* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.

Holger HartwigDer erste Blick – und dann wegschauen?