Der Sarg in der Ratssitzung

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In über 30 Jahren als Journalist sind die Sitzungen von Gremien auf Gemeinde-, Stadt- und Kreisebene oft durch Langeweile geprägt, weil nicht selten Jeder oder Jede zu einem Thema etwas sagen muss, auch wenn bereits alles gesagt ist. Oft ist der Redakteur auch der einzige Vertreter der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung machen die Sachen ansonsten unter sich aus. Und noch öfter gehen Sitzungen auf einmal sehr zügig voran, wenn sich die Presseleute einig sind, dass sie in die Redaktion fahren und den Rest der Themen nachtelefonieren. Doch dann gibt es Sitzungen, die sind legendär. Meine Top 3…

Platz 1: Der Trauermarsch und der Sarg

 Die skurilste Szene spielt sich im Herbst 2007 im Sitzungssaal des Rathauses in Papenburg ab. Mitten in der Sitzung geht plötzlich die Tür auf. Aus einem Radiorekorder ertönt lautstark, aber stilecht der Trauermarsch. Herein kommen schwarz gekleidete Männer und Frauen, die einen echten Sarg – keine Attrappe – und ein Kreuz tragen. Sie laufen zielstrebig in die Mitte des Saals und stellen dort den Sarg ab. Das Motto der Inszenierung: In Papenburg wurde in den vergangenen Tagen die Demokratie zu Grabe getragen. Was ist passiert und wer kommt auf eine so dramatische Inszenierung? Verantwortlich für das Schauspiel ist der Grüne Ratsherr Nikolaus Schütte zur Wick. Er nimmt das Verhalten seiner ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Daniela Herden zum Anlass. Sie hat etwa ein Jahr nach der Kommunalwahl den Austritt aus der Grünen-Fraktion vollzogen – und ist mit fliegenden Fahnen direkt als parteiloses Mitglied in die Fraktion der CDU gewechselt. Damit hat sie dafür gesorgt, dass die Christdemokraten im mächtigen Verwaltungsausschuss wieder gemeinsam mit dem Bürgermeister (er gewann die Wahl als Parteiloser und trat dann wieder in die CDU ein) die Mehrheit haben. Die Gesichter der Ratsmitglieder im Moment, als der Sarg reingetragen wird, kann man auch heute nicht in Worte fassen. Der Ratsvorsitzende kann angesichts der Lautstärke das Geschehen auch nicht unterbinden. Erst als die Musik aus ist, kommt die Aufforderung, dieses Schauspiel unverzüglich zu beenden, da es sich um eine nicht zulässige Störung der Sitzung handele. Die Fotos vom Sarg in der Ratssaalmitte sind bis heute wohl einmalig. So etwas dürfte es deutschlandweit kein zweites Mal geben…

Platz 2: Volle Hütte und ein entlarvender Beschluss

Ein schönes Erlebnis ist hingegen eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung in Wolgast. Dort trifft man sich zur Versammlung, wo auch im Frühjahr gerne kräftig Karneval gefeiert wird. Es ist das Jahr 1992 und an den Tagen vor der Sitzung habe ich über die Verkehrssituation in der Stadt vor den Toren Usedoms berichtet. Tag für Tag rollt eine Blechlawine durch die kleine Stadt und zu den Brückenöffnungszeiten geht nichts mehr. Seit gut einem Jahr gibt es Planungen, eine große Umgehungsstraße zu planen und zu bauen. Ein millionenschweres Projekt, das als erste Voraussetzung für die Finanzierung in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen werden muss. Zwei Tage vor der Sitzung recherchiere ich, dass die Stadt es versäumt hat, den Straßenneubau beim Bund zur Aufnahme in den Plan anzumelden. Weitere „Katastrophen“ in der Arbeitsweise der Verwaltung lassen nur einen Rückschluss zu: das wird nichts mit der Straße, wenn das so weitergeht. In der Berichterstattung muss ich vorsichtig sein, viel im Konjunktiv formulieren, damit mein Informant nicht in Schwierigkeiten kommt. Manches bleibt so in der Darstellung spekulativ, in der Hoffnung, dass die Leser wissen, was dahintersteckt. Das funktioniert. Das Thema bewegt die Menschen in der Stadt. Bereits weit vor Sitzungsbeginn platzt der Saal aus allen Nähten. Viele Interessierte verfolgen die Sitzung im Stehen. Und was passiert zu Beginn der Sitzung? Es werden drei Eilanträge gestellt. Der erste hat es in sich. Da soll beschlossen werden, dass diejenigen, die wiederholt den Wolgaster Anzeiger mit vertraulichen Informationen, so wie auch bei dem Straßenthema,bei der „Entdeckung“ fristlos entlassen werden sollen. Was dieser Antrag bewirken soll? Er soll wohl Angst machen. Ich sitze am Pressetisch und muss aufpassen, dass ich nicht laut zu lachen anfange. Denn die Situation ist urkomisch. Die Stadtverordneten stimmen dem Antrag mehrheitlich zu – und wissen wohl nicht, was sie damit zum Ausdruck bringen. Jedem Besucher der Sitzung ist in diesem Moment klar, dass alles das, was ich an Schwierigkeiten, Defiziten und Katastrophen rund um die Umgehungsstraße so mühsam verpackt hatte, der Realität entspricht. Einen größeren Gefallen konnten mir der Bürgermeister und Stadtverordneten nicht machen. Ach ja, die Umgehungsstraße, die weit um den Ortskern geführt hätte, ist bis heute nicht gebaut. Stattdessen wurde als kleine Lösung – das Geld für Verkehrsprojekte Deutsche Einheit wurde immer weniger – die Brücke erneuert. Also steht weiterhin in den Sommermonaten in der Stadt alles still. Und viel wichtiger: Kein Informant aus der Stadtverwaltung hat seinen Job jemals verloren. Ein guter Journalist weiß bekanntlich alles, aber – wenn es sein muss – niemals woher. Mit heute fast 30 Jahren Abstand kann ich das Geheimnis ja lüften: Die vertraulichen Infos kamen mit Kopien aller Unterlagen aus der Wolgaster Kreisverwaltung…

Top 3: Der Button an der Krawatte

Bis heute in Erinnerung ist mir die Cleverness geblieben, mit der der damalige Stadtdirektor von Leer, Andreas Schaeder, in einer der ersten Sitzung, an denen ich teilnehme, agiert hat. Der Chef einer Verwaltung – Schaeder war später auch Oberkreisdirektor – ist damals anders als heute der Bürgermeister oder Landrat zur Neutralität verpflichtet und darf sich politisch nicht äußern bzw. positionieren. Und was macht der Schaeder? Er geht ans Pult und greift zu seiner Krawatte. Schwupp, liegt diese vorne über dem Rednerpult, so dass sie jeder sehen kann. Und weil er sich ja nicht positionieren darf, hat er an der Krawatte einen Button mit einer eindeutigen Botschaft festgemacht, die nun jeder im historischen Ratssaal von Leer lesen kann. So auch der Sitzungsleiter, der damalige Bürgermeister Günther Boekhoff. Kurzerhand fällt er Schaeder ins Wort, weist ihn auf seine Neutralität hin und bittet ihn, den Button von der Krawatte zu nehmen. Was macht Schaeder? Er antwortet souverän: „Kein Problem, das hat jetzt eh jeder gesehen…“ – und nimmt die Krawatte ab. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, worum es in der Sache ging. Bis heute ist das einer der cleversten Momente, die ich in Gremiensitzungen je miterlebt habe. Irgendwie ein typischer Schader, der auch in den vielen Jahren danach in der Stadt und als Landrat beim Kreis oft seiner Zeit voraus war und mit taktischen Winkelzügen versiert die Weichen stellte, wie beispielsweise bei der Bahnlinie Leer-Groningen, die es ohne ihn wohl nicht mehr gebe (wenn dann nach fast 10 Jahren über die neue Brücke wieder Züge über die Ems fahren können).

Symbolfoto: Pavel Danyluk, pexels.com

Holger HartwigDer Sarg in der Ratssitzung