Die Morddrohung

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Die vier wilden Jahre im Osten von Ende 1990 bis Ende 1994 bringen neben vielen spannenden und interessanten Erlebnissen auch Erinnerungen mit sich, auf die ich gerne verzichtet hätte. Eine davon spielt sich 1994 ab. Ich bin zwar schon seit fast zwei Jahren nicht mehr in Wolgast vor den Toren Usedoms, doch die Recherche an einem Thema ist auch aus der Distanz immer weitergegangen. Es geht um Subventionsbetrug im großen Stil. Millionen DM haben sich findige „Westler“ mit Förderprojekten erschlichen – und gemeinsam mit einer Redakteurin vom MDR trage ich Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen zusammen. Die nachweisbaren Fakten und Zusammenhänge werden immer deutlicher, so dass einer Veröffentlichung bald nichts mehr im Wege stehen wird. Doch dann kommt ein Anruf, den ich nie vergessen werde.

Während einer Autofahrt nach Dresden klingelt das Telefon und eine Stimme sagt nur: „Herr Hartwig, Sie sind da ja an einem Thema dran, das sich mit… beschäftigt. Wir wissen, was sie mittlerweile an Informationen haben und Sie wissen, was da alles dranhängt und sie wissen auch, wie gut hier alte Netzwerke noch funktionieren. Wenn Ihnen etwas an Ihrem Leben hängt, dann gebe ich Ihnen und Ihrer Kollegin einen guten Rat: Hören Sie auf zu recherchieren und kommen Sie nicht auf die Idee, irgendwo etwas zu veröffentlichen. Dann kann keiner mehr ihre Sicherheit garantieren.“ Danach legte der Anrufer auf. Ich bin erst einmal rechts rangefahren. Hatte irgendwie etwas von schlechtem Kinofilm, und meine Knie waren doch etwas wackelig. Oder war das alles nur ein Scherz? Wohl kaum, denn der Anrufer wusste genau, um welches Thema es geht und wie die Zusammenhänge sind.

Ich hatte mir immer geschworen, mich nicht unter Druck bzw. beindrucken zu lassen, aber nun, wenn es um das Leben geht? Es dauerte einige Tage, bis ich das verarbeitet hatte und wusste, dass ich weiter recherchieren wollte. Dann ruft mich die Kollegin an. Sie hat einen vergleichbaren Anruf erhalten – allerdings mit einem kleinen Unterschied. Die Kollegin hat zwei kleine Kinder und der Anrufer hat seine Drohung modifiziert. Zu der Kollegin sagte er: „Ihr Leben ist uns egal, aber Ihnen sollte das Leben Ihrer Kinder so viel wert sein, dass Sie nicht weiterrecherchieren.“ Rumms. Für die Kollegin war die Sache klar: Das Leben ihrer Kinder wolle sie auf gar keinen Fall gefährden. Also entscheiden wir, dass wir an dieser Stelle abbrechen. Alleine weiterzumachen, kommt nicht in Frage, da diese Recherche ganz allein nicht neben dem Job als verantwortlicher Redakteur in einem Verlag zu leisten war.

Warum ich den Anruf sehr ernst genommen habe, hat neben der professionellen Art und Weise auch einen weiteren Grund. Ich habe in den Jahren zuvor erlebt, dass die alten Strukturen und Netzwerke keinesfalls allesamt mit dem Ende der DDR untergegangen sind. So habe ich im Frühjahr 1993 (!) eine umfassende Liste zugespielt bekommen, auf der alle hauptamtlichen Mitarbeiter aus dem Bezirk Rostock aufgeführt waren. Das wäre ja nicht so ungewöhnlich gewesen, aber: Auf der Liste stehen nicht nur die Dienstgrade und der Verwendungszweck, sondern neben der alten Anschrift auch eine aktuelle, in vielen Fällen oft in Westdeutschland. Eine weitere Spalte hat die Überschrift „April 1991“ und dann stehen hinter einigen Namen Zahlen sowie die Buchstaben DM. Die Zahlen sind oft identisch, unterscheiden sich in der Höhe nach den Dienstgraden und Einsatzgebieten. Ob es sich dabei um Zahlungen an die „Spitzel“ in 1991, also bereits 1,5 Jahre nach der Wende handelt, diese Frage lässt sich nie klären, aber eben auch nicht ausschließen. Nachdenklich macht es mich bis heute, zumal mir beispielsweise auch ein hoher Landespolitiker berichtet hata, dass morgens im Winter die Radmuttern bei ihren Autos gelöst waren und sie nur deshalb nicht zu Schaden gekommen sind, weil er mit einem Besen die Reifen frei gemacht hatten und so die gelösten Schrauben sah… Und es passieren in den Jahren viele weitere Dinge, die bis heute Fragen offen lassen.

 

 

Holger HartwigDie Morddrohung