Update mit Reaktionen: Bürgermeisterwahlkampf – ein Etikettenschwindel?

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In zwei Wochen stehen sie an, die Kommunalwahlen. In fast allen Orten fokussiert sich der Wahlkampf auf die Chefsessel in den Rathäusern oder Kreisverwaltungen. Dabei ist diese Personalentscheidung für die Zukunft einer Kommune eher zweitrangig. Sie ist in gewisser Weise ein Etikettenschwindel.

Warum? Schauen wir dafür auf die Stadt Leer. Einstmals war es der parteilose Wolfgang Kellner, jetzt ist es Beatrix Kuhl, die über das Ticket der Minderheiten-CDU auf den Chefposten gekommen ist und sich heute als Parteilose gibt (Zitat auf ihrer Homepage: Meine Partei sind die Bürgerinnen und Bürger). Beide haben in ihren Amtszeiten – und das ist nicht nur in Leer so, sondern in vielen Rathäusern  – keine natürliche politische „Hausmacht“, sprich Mehrheit hinter sich. Sie wurden von den Bürgerinnen und Bürgern aufgrund ihrer politischen Botschaften gewählt, können letztlich alleine aber nichts bewegen. Das ist so, weil sie zwar – wie auch ein Landrat – ein Vorschlagsrecht für ihre Ideen haben, aber selbst nur eine einzige Stimme wie jedes normale Rats- bzw. Kreistagsmitglied. Streng genommen sind sie am Ende „nur“ Leiter der Verwaltung und sollen aus dieser Position – idealerweise gemeinsam mit den Fachleuten der Behörde und der Politik – die Entwicklung „moderieren“ und ermöglichen. Eigene Ideen sind dabei gut, politische Auffassung manches Mal eher hinderlich.

Glauben Sie nicht? In Leer hat Bürgermeisterin Kuhl seit 2014 wiederholt die Situation, dass ihre (guten) Vorschläge abgeschmettert werden, selbst wenn sie aus Sicht der Fachleute aus der Verwaltung die sinnvollste Lösung sind. Das frustriert nicht nur die Chefin immer wieder, sondern auch die Stadtbediensteten, wie nicht zu überhören ist. Ein schönes Beispiel gefällig? Kuhl wollte einen erfahrenen Pressesprecher einstellen, um die Stadt nach außen besser zu verkaufan. Ihr gelang es nicht, für diesen Wunsch die Zustimmung zu bekommen. Die Mehrheit der Politik war dagegen. Pikanterweise waren es aber dann auch genau diese Politiker, die – auch wenn der de facto dort nicht so bezeichnet wird – ausgerechnet bei den Stadtwerken Leer die Einstellung eines Pressesprechers „genehmigten“ (Anmerkung: Es handelt sich dabei um Redakteur Edgar Behrendt, der zuvor viele Jahre für die Zeitungsgruppe Ostfriesland über Leer und umzu berichtet hat). Ach ja, Chef der Stadtwerke ist übrigens Claus-Peter Horst, derzeit von der SPD und den Grünen im Wahlkampf unterstützter Gegenkandidat Kuhls. Und das Abschmettern von Vorlagen Kuhls kommt übrigens nicht überraschend. Bereits kurz nach ihrem Amtsantritt kündigten Teile der SPD, die mit Linken und mit den Grünen/CDL gerne eine Mehrheit bilden, an, sie „bekämpfen“ – oder besser gesagt boykottieren – zu wollen.

Was das mit Blick auf den 12. September bedeutet? Es ist wichtig, sich als Wähler die Ziele der Parteien und Wählergemeinschaften anzusehen und mit den Zielen der Bürgermeister-Bewerber abgleichen. Und man sollte sich bewusst sein, dass für den Chefsessel eine Persönlichkeit gesucht wird, die zuallererst eine Verwaltung zielorientiert führen und die Ratsmitglieder über die Parteigrenzen hinweg von den fachlich erarbeiteten Beschlussvorlagen mehrheitlich überzeugen kann. In erster Linie eine(n) (Stadt)-Verwaltungschef(in) eben, so wie es das Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz auch aussagt.

Übrigens: Diese Eingleisigkeit (Bürgermeister ist auch Verwaltungschef) hat die SPD-Landesregierung in den 1990er Jahren eingeführt. Vorher gab es Stadt- und Oberkreisdirektoren, die eine Fülle an Qualifikationen für diese Ämter mitbringen mussten. Und wozu hat die Eingleisigkeit geführt? Tendenziell sind viele parteilose Verwaltungsexperten entweder in eine Partei eingetreten, haben sich einer Partei zugewandt oder haben sich entschieden, auf eigene Initiative als Parteilose anzutreten. Oder es sind Kandidaten angetreten, die zuvor in der Wirtschaft in Führungsfunktionen tätig waren. Und das dann nicht selten erfolgreich. Ach ja, Spitzenreiter in dieser Hinsicht ist im Nordwesten Wiesmoor. Dort gibt es  sieben Bewerberinnen und Bewerber – alle parteilos.

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Reaktion von Beatrix Kuhl, Bürgermeisterin der Stadt Leer (30. August 2021):

„Gibt es Kommunen, bei denen komplette Blockade der Fall ist? Mir ist nichts bekannt.“

Sehr geehrter Herr Hartwig!

Mit Interesse habe ich Ihren Artikel gelesen. Sie diskutieren ein interessantes Thema: Welche Funktion hat eine Bürgermeisterin und berühren dabei einige Aspekte. Richtig, Bürgermeister haben nur einer Stimme. Richtig auch, sie haben eine Doppelfunktion: einerseits leiten sie eine Verwaltung, andererseits haben sie repräsentative Aufgaben. Und richtig ist auch, dass Bürgermeister Mehrheiten für Projekte bekommen müssen, wenn sie umgesetzt werden sollen.

Aber wer setzt die Themen, wer ruft die Themen auf, über die „man sich einigen“ muss – diese Frage erscheint mir wichtig. „Ziel“identität zwischen Bürgermeistern und Ratsmitglieder sind sinnvoll? Wünschenswert? Notwendig?  Müssen alle einer Meinung sein: Ratsmitglieder, Verwaltung und Bürgermeister? Wo wird die Einigkeit oder auch die Öffentlichkeit hergestellt, wenn nicht in den Sitzungen?

Mein Verständnis: Verwaltung, Bürgermeister und Ratsmitglieder können Themen aufzurufen. Sei es durch Verwaltungsvorlagen oder durch Anträge oder Aufnahme von Tagesordnungspunkten seitens der Fraktionen und Ratsmitglieder. Auch Sitzungen können seitens der Politik einberufen werden. Aber auch hier: Anträge aus der Politik benötigen auch Mehrheiten: Mehrheiten, sowohl für Anträge aus der Politik als auch der der Verwaltung.

Möglicherweise setzen Politik und Verwaltung unterschiedliche Schwerpunkte. Ist das ein Konflikt? Macht es nicht sogar Sinn, dass Bürgermeister und Ratsmitglieder nicht immer deckungsgleich in ihren politischen Vorstellungen sind? Gibt es das überhaupt: Deckungsgleichheit bei Themen? Mich persönlich würde das eher misstrauisch machen. Mehrheiten werden sich finden, haben sich auch in Leer immer gefunden, auch wenn die Bürgermeisterin und/oder die Verwaltung anderer Meinung sind (Beispiel FaCit). Ganz wichtig ist, dass seitens der Verwaltung das umgesetzt wird, was der Rat beschließt, und richtig, bei diesen Beschlüssen hat die Bürgermeisterin nur eine Stimme. Und dieses tut eine Verwaltung.

Und richtig, wenn es eine komplette Blockade gäbe für eine Bürgermeisterin, dann würde nichts passieren in einer Stadt. Gibt es Kommunen, bei denen das der Fall ist? Mir ist nichts bekannt. Es werden sich immer Mehrheiten für das eine oder ein andere Projektes finden – wenn nicht im Sinne der Verwaltung: Na, dann muss sich die Verwaltung zufrieden geben – dann ist das so. Und in Leer: Die Mehrheit der Projekte sind in den letzten Jahren umgesetzt worden.

Politik ist oftmals geprägt von Kompromissen. Und nicht immer kann sich die Bürgermeisterin mit ihren Vorstellungen durchsetzen. Diese Erfahrung mussten auch meine Vorgänger machen. Erinnern Sie sich an die von meinem Vorgänger gewünschte Ansiedlung von ECE? Die wurde politisch abgelehnt: So ist der politische Alltag.

Und in allen Kommunen täglich Brot. Ganz gleich, ob man hinter dem Bürgermeister/der Bürgermeisterin steht oder nicht. Und wenn Sie mich fragen: Das ist doch die reinste und beste Form von Demokratie – einer Demokratie hat Auseinandersetzung nie geschadet. Und am Ende stehen Mehrheiten für Zustimmung oder Ablehnung.

Noch ein Wort zur erwähnten Hundewiese, die Ratsfrau Bonow aufruft, indem sie kritisiert, dass die Bürgermeisterin dieses Thema noch einmal in den Ausschuss hätte bringen sollen: Die Haushaltsmittel  wurden explizit für die „Hundewiese“ in 2020 von den Ratsmitgliedern im Haushalt verabschiedet und damit wurde das Projekt auf den Weg gebracht. Und die Hundewiese war auch auf der Investitionsliste zu finden – damit übersichtlicher. Mit der Haushaltsverabschiedung ist sie dann auf dem Weg! Und ich freue mich darüber mit vielen Hundebesitzerinnen und -besitzern.“

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Reaktion von Gudrun Bonow im Namen der Fraktion Grüne/CDL im Leeraner Stadtrat (29. August 2021):

„Tauriges Bild wird der Arbeit der Ratsmitglieder nicht gerecht“

Sehr geehrter Herr Hartwig, Sie zeichnen da ein trauriges Bild des gesamten Stadtrates. Dort sitzen über alle Parteigrenzen hinweg, Menschen die sich ehrenamtlich für die Belange unserer Stadt einsetzen. Über die Jahre hinweg wurden viele Entscheidungen, manchmal nach hitzigen Diskussionen einstimmig getroffen.

Sie schreiben, die (guten) Vorschläge von Frau Kuhl wurden abgeschmettert, weil sie bekämpft werden sollte. Schade, das wird der Arbeit der Ratsmitglieder nicht gerecht. Es könnte aber eine Erklärung dafür sein, warum die Entscheidung für eine umzäunte Hundewiese im Julianenpark (Kosten?) dem Rat erst gar nicht vorgelegt wurde. Was bei den vielen  Steichungen der freiwilligen Leistungen (Sport, Kultur) angesichts der angespannten Haushaltslage der Stadt Leer und den vielen Debatten über die Fortentwicklung des Julianenparkes wohl sinnvoll gewesen wäre.

Unser Ziel für die nächste Ratsperiode ist eine konstruktive Zusammenarbeit im Rat, denn es geht um Leer, nicht in erster Linie um Personen. Das sollte endlich wieder im Vordergrund stehen!

Holger HartwigUpdate mit Reaktionen: Bürgermeisterwahlkampf – ein Etikettenschwindel?