Von Holger Hartwig*
Es gab Zeiten, das war es in der Familie, am Arbeitsplatz und in vielen anderen Situationen des Lebens selbstverständlich, sich bei der Begrüßung die Hand zu reichen. Heute gilt das für viele Menschen als „uncool“, „überholt“, „überflüssig“ – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Dabei kann dieser Teil der Begegnung bereits richtungsweisend sein, um zu erkennen, wie es um die „Beziehung“ der Menschen steht, die aufeinander treffen. Was ist damit gemeint?
Achten Sie bei der nächsten Begegnung ganz bewusst darauf, wer als erster die Hand ausstreckt. Achten Sie darauf, wie dieser „Vorgang“ passiert, wie nah Ihnen die Hand kommt und wie Sie auf diese ausgestreckte Hand reagieren. Oder umgekehrt: Nehmen Sie gezielt war, wie ihr gegenüber darauf reagiert, wenn Sie ihm die Hand entgegenstrecken.
Wer genau beobachtet, der wird viel erkennen. Kommt einem die Hand des Anderen ohne Zögern entgegen, dann ist man in gegenseitiger Beachtung, Wertschätzung bzw. „Compliance“. Die Beziehung stimmt, das Vertrauen ist da. Ist auf der anderen Seite ein Moment des Zögerns, ist das Ausdruck der Unsicherheit oder einer Form des Ausweichen wollen (meist wird dann aber doch die Hand gegeben, weil „man“ sich seiner Sache nicht oder noch nicht sicher genug ist). Oder man gibt die Hand aus Angst mit Blick auf die Reaktion des Anderen, was dann ein Ausdruck einer gewissen Unterwürfigkeit oder im Job der Hierarchieebene ist. Wird der Handschlag verweigert, ist es die offene Form den Widerstandes bzw. der Abwehr – eine sehr selten praktizierte Form, weil das eine Brüskierung ist und der Konflikt schon vor dem ersten gesprochenen Wort zum Ausdruck bringt.
Ja und dann gibt es auch die Hand-Geber, die halt nur sich im Blick haben. Sie ziehen ihr „Ding“ durch, greifen ohne Rücksicht zu und werden so „übergriffig“ (welch spannendes Wortspiel in diesem Zusammenhang). Menschen, die so handeln, bleiben tendenziell ihrem Vorhaben treu, legen keinen Wert auf gemeinsame Betrachtungen der Situation oder gar dem Finden von einvernehmlichen Lösungen.
Sie glauben, dass das Hand geben überbewertet wird? Dann fragen Sie sich mal: Warum steht am Ende eins Konfliktes oder eines Geschäfts das „sich die Hand drauf geben“?. Beide Seiten besiegeln damit, dass sie die besprochene Situation mit einen Ergebnis gemeinsam beenden.
Zum Abschluss noch eine Erklärung, warum gute Chefs – die Corona-Zeit einmal ausgenommen – der jahrhunderterlangen Tradition treu bleiben, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim morgendlichen Rundgang durch das Büro per Handschlag begrüßen. Die Antwort liegt nahe: In dem Moment, wo sich die Hand gereicht wird, ist die Aufmerksamkeit ausschließlich bei dem Gegenüber. Ein guter und wahrnehmungsstarker Chef, der seine Leute kennt und jeden Morgen so unterwegs ist, spürt in diesem kurzen Moment jede noch so kleine Verunsicherung oder vielleicht auch Sorge, die der Mitarbeiter beruflich oder auch privat hat. Und dieses Spüren bietet dann die Chance, ein Angebot zu machen, um als guter Chef den Mitarbeiter zu unterstützen in der Situation, in der er sich gerade befindet. „Kommen Sie doch nachher mal kurz vorbei“ oder „Wir sollten noch über das oder das sprechen“ (auch wenn das nicht wirklich erforderlich ist) – ohne die Aufforderung vor versammelter Mannschaft oder über einen unpersönlichen Anruf kommt es zu einem persönlichen Dialog. Ein Dialog, der Distanzen abbaut, Konflikte löst, Hilfe leisten kann.
Ach ja, wann immer Sie die Hand reichen, seien Sie sich bewusst: Sie sind nicht das Maß aller Dinge für Nähe und Intensität. In einem guten Miteinander ist der Händedruck ein Zeichen von Verbundenheit, das zwanglos, freundlich und mit der nötigen Kraft gegeben wird. Und achten Sie darauf, dass Sie die Hand des Anderen nicht mit zu viel Kraft „erdrücken“. Das ist nicht weniger schlimm, als wenn Sie den „Wischi-Waschi-Handdruck“ praktizieren.
Wenn Ihnen also die Hand gereicht wird oder Sie die Hand reichen, achten Sie darauf wie es sich für sie anfühlt. Sie werden schnell feststellen, dass dieser „erste Eindruck“ meist ein Vorbote für alles ist, was danach folgt.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.