Der Kreislauf der Blinden

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Von Holger Hartwig*

Kennen Sie den Gedanken „Wie kann man nur so blind sein…?“ Sie sollten sich immer gut überlegen, ob Sie diesen Satz wirklich aussprechen. Denn Sie könnten es mit einem Kreislauf der Blinden zu tun haben – und dann, ja dann hat dieser ausgesprochene Satz die Lizenz für Ärger und Stress…

Was hat es mit dem Kreislauf der Blinden auf sich? Stellen Sie sich einmal vor, Sie arbeiten in einer Firma als Führungskraft. Sie haben einen jungen, hochmotivierten Chef. Wir nennen ihn mal Paul. Paul legt – zumindest auf den ersten Blick betrachtet – viel Wert auf einen Führungsstil, bei dem die Mitarbeitenden mit einbezogen werden.

Paul ist clever. Wenn er mit seiner Führungsmannschaft – die meisten Mitarbeitenden hat er mit seinen Fähigkeiten und Kenntnissen selbst eingestellt – zu einem Thema zusammensitzt, dann möchte er gerne die Sichtweisen seiner Mitarbeitenden einholen. Paul denkt sich: Wenn ich bei einem Thema nicht so genau weiß, was ich machen soll, dann werden die anderen mit ihren Meinungen dafür sorgen, dass ich den richtigen Durchblick bekomme und dann gute Entscheidungen treffe.

Stellen wir uns nun also vor, dass dieser Paul ein wichtiges Thema in einer Sitzung anspricht. Er stellt Zahlen, Daten, Fakten vor und – sehr kurz und knapp, weil er sich nicht so sicher ist – wie er die Dinge sieht. Und dann fragt er in die Runde: „Meine Damen und Herren, wie sehen Sie das? Marco, was meinen Sie?“ Und wie reagiert der Marco? Er steckt auch nicht so gut im Thema und denkt sich: „Bevor ich etwas falsch mache und alle merken, dass ich bei dem Thema nicht so durchblicke, sage ich am besten „Chef, das sehe ich genauso“. Ok, dann ist die Annette dran. Gut, es ist nicht ihr Fachbereich, aber bevor sie darauf hinweist, ist es ja viel einfacher zu sagen: „Meine Herren, das sehe ich genauso!“ So geht es in der Runde weiter. Auch bei Martina läuft das ähnlich, nur Dagmar drückt sich wie immer diplomatisch aus und nur wer sie kennt, weiß, was wie gemeint ist. Kurzum: Man ist sich einig, wie die Dinge zu sehen sind. Zufriedenheit bei allen am Tisch. Dann ist ja klar, wohin die Reise geht.

Und dann sind Sie an die Reihe. Und Sie denken sich: „Das kann doch wohl nicht wahr sein. Wie kann man so blind sein? Das liegt doch auf der Hand, dass das, was jetzt gemacht werden soll, so absolut nicht klappen kann.“

Und was machen Sie? Wenn Sie unerfahren sind und die Sache immer in den Vordergrund stellen, dann sagen Sie Ihre Meinung und hoffen, dass ihre Argumente „ziehen“. Der Ärger ist ihnen sicher – selbst wenn Sie als der/die „Sehende“ im Kreislauf der Blinden für den richtigen Durchblick sorgen.

Denn vor allem ihr Chef Paul mag es gar nicht, wenn ihm jemand seinen fehlenden Durchblick so direkt aufzeigt. Sie haben ihm zwar die Augen geöffnet und vielleicht wird er die Argumente in der weiteren Betrachtung auch einfließen lassen, aber: Sie haben auch den Kreislauf der Blinden unterbrochen. Und wenn alle blind sind, dann stört der Sehende auf Dauer…

Also: Wenn Ihnen der Gedanke durch den Kopf schießt, wie „man“ nur so blind sein kann, achten Sie genau darauf, ob Sie es gerade mit einem „Kreislauf der Blinden“ zu tun haben. Denn dann können Sie sich sicher sein: Der Sehende wird nicht auf Dauer unter den Blinden verweilen. Im positiven Fall, weil er selbst aus dem Kreis der Blinden und zu einer Firma der Sehenden wechselt, im negativen Fall, weil er „entsorgt“ werden muss, denn als Augenöffner wird er zu einer ernsthaften Gefahr für alle Blinden und allen voran für seinen Chef Paul.

Hinweis des Autors: Natürlich sind der Kreislauf der Blinden und die genannten Namen frei erfunden und die Namen könnten auch Stefan, Joachim oder Nadine heißen.

Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.


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