Von Holger Hartwig*
Kein Mensch behauptet von sich, emotionslos zu sein. Ebenso sind auch nur wenige Menschen bereit, sich einzugestehen, dass ihr Umgang mit Emotionen – Glück einmal ausgenommen – eine große Herausforderung für sie ist. Gerne wird sich etwas vorgemacht, die Situation gewechselt oder sich – drastisch ausgedrückt – auf die Flucht vor der Emotion begeben.
Mit der Herausforderung, Emotionen in den Alltag zu integrieren und sie „händelbar“ zu machen, hat fast jeder Mensch zu tun. Fast niemand lebt mit seinen Emotionen wie Angst, Traurigkeit oder Wut kontinuierlich im inneren Einklang, bewahrt die Ruhe und „fängt“ sich selbst ein. Der Umgang mit Emotionen ist eine Lebensaufgabe.
Dann gibt es Menschen, die ihre Emotionen immer wieder „wegdrücken“. Nur nicht zeigen, wie es in mir aussieht, das ist die Devise. Warum? Ganz einfach: Sie tragen in ihrem Innersten die Befürchtung, dass sie beim Zulassen der Gefühle die Kontrolle über sich, die Situation oder das Miteinander mit anderen Menschen verlieren. Diese Befürchtung bzw. Angst, die Kontrolle zu verlieren, kann aus täglichen Erfahrungen im Leben resultieren, aber ebenso auch aus einschneidenden Lebensereignissen rühren. Statt sich den Emotionen zu stellen, sie sich genauer anzusehen, wird lieber „zu“ gemacht. Dieser „Fluchtmechanismus“ lässt sich dann mit jeder erfolgreichen Flucht weiter perfektionieren. Manch einer entwickelt dabei soviel „Ehrgeiz“, dass er die Emotion schon vor dem ersten Auftreten „einfängt“ bzw. „unterdrückt“, nur um nicht Unsicherheit und Angst mit sich selbst und im Umgang mit anderen ertragen zu müssen.
Dabei ist das Zulassen der Emotionen eine der zentralen Voraussetzungen für Lebensfreude und Zufriedenheit. Nur wer Emotionen, die sich oft auch durch körperliche und teils heftige Reaktionen zeigen, annimmt, der kann sie integrieren – und damit die meisten emotionalen Heftigkeiten für sich auflösen. Der kann lernen, wie er auf seine innersten Gefühle „reagieren“ kann.
Wie eine Integration der Emotionen – sie sind ein gutes Zeichen, denn sie stehen für Lebendigkeit, Flexibilität, Offenheit – besser funktionieren kann? Das Zulassen ist der erste Schritt, auch wenn es für den Moment schmerzhaft sein kann. Im zweiten Schritt hilft es sich anzusehen (am besten mit Unterstützung eines Coaches, der sich auskennt), was der Auslöser bzw. der „Trigger“ für die jeweilige Emotion gewesen sein könnte.
Die Fragen, die sich im Zusammenhang mit Emotionsausbrüchen stellen können, sind vielfältig: Gibt es eine dahinterliegende Ursache, die die Emotionalität hervorruft? Gibt es eine Angst vor dem, was kommt, wenn ich meine Emotionen zulasse und zeige? Woher kommt diese Angst? Ist die Emotion dem Verhalten eines anderen geschuldet? Welches Verhalten ist es, was meine Emotion führt?
Es hilft, sich noch so kleiner Facetten, die zu den Emotionen bzw. emotionalen Ausbrüchen (das kann bis zur Panikattacke reichen) führen, bewusst zu werden und diese aufzuschreiben. Es wird nicht lange dauern, bis aus diesen Aufzeichnungen die ersten Erkenntnisse kommen.
Oft sind es wiederkehrende Muster oder noch nicht verarbeitete Lebenssituationen, die zu Emotionen bzw. emotionalen Ausbrüchen führen. Wer diese erkennt, sich ihnen direkt stellt, statt sie aus einem erlernten Verdrängungsmechanismus zu unterdrücken, der geht den ersten Schritt zu Lösung. Es ist eine herausfordernde Aufgabe, selbst angelegte „Fesseln“ bzw. Reaktionsmuster zu erkennen und abzulegen. Doch es lohnt sich. Wer den anstrengenden, weil sehr ehrlichen Weg im Umgang mit sich selbst für sich geht, der wird merken, wie angenehm es ist, ohne Angst, Selbstdisziplin oder Unsicherheit durch jede Lebenssituation mit Vertrauen zu sich selbst gehen zu können.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.