DAS SONNTAGSTHEMA: Das Ehrenamt – der Kitt der Gesellschaft, der immer mehr zerbröselt

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„Sie sind der Kitt unserer Gesellschaft“ – diesen Satz aus dem Mund eines Politikers oder eines Verwaltungsvertreters kennt jeder Ehrenamtliche, der sich im Kreis Leer in einem Verein in der unterschiedlichsten Weise zum Wohle der Allgemeinheit engagiert. Er soll die Aktiven aufmuntern, weiter ihre freie Zeit neben dem Beruf für andere einzubringen.

Im Kreis Leer hat das Ehrenamt seit 2004 eine besondere Würdigung und Wertschätzung bekommen. In diesem Jahr entstand beim 100-jährigen Bestehen des SC04 Leer die Idee, eine jährliche Auszeichnung von Ehrenamtlichen nicht nur aus der ersten „Vereinsreihe“ vorzunehmen. Das „Blinkfüür“ wird seitdem jährlich durch den Kreis Leer an Ehrenamtliche verliehen. Aktuell läuft bis Ende April die Vorschlagsfrist für diese Anerkennung von Engagierten im Jahr 2022.

Für die Kreisverwaltung Leer ist diese Auszeichnung mittlerweile einer der kleineren Bestandteile, mit denen die Vereinsarbeit gefördert wird. Nach und nach ist ein umfangreiches Paket, seit 2016 stark gestützt durch Landrat Matthias Groote (SPD), entwickelt worden. Die Stabsstelle Ehrenamt und die Freiwilligenagentur haben einen bunten Fächer an Aktivitäten entwickelt, die auf einer eigenen Internetseite unter www.wirpackenfreiwilligan.de präsentiert werden. So werden für die Ehrenamtlichen bei einem Vereinsforum Weiterbildungsangebote gemacht, die Ehrenamtskarte setzt Akzente, die Öffentlichkeitsarbeit pro Ehrenamt ist deutlich umfangreicher geworden und vieles mehr. Kurzum: Auf kommunaler Ebene wird alles unternommen, um die Aktiven „bei der Stange“ zu halten und neue, junge Kräfte für die Vereine und Verbände zu gewinnen.

Werden diese Aktivitäten des Kreises und auch zum Teil der Kommunen im Kreis Leer auf Dauer ausreichen, um für das organsierte Vereinsleben im Sport, in der Kultur, im Sozialbereich dauerhaft ausreichend Engagierte zu finden? Nein. Denn wer sich heute ehrenamtlich engagiert, der trifft auf ausufernden Bürokratismus. Wer mit einem Vereinsvorstand spricht, der wird hören: Einen Verein zu führen, ist heute wie die Leitung eines kleinen mittelständischen Betriebes. Formulare hier, Statistiken dort. Wer mit einem Übungsleiter in einem Sportverein spricht, der wird hören, dass es ihn nachdenklich macht, dass vor deutschen Gerichten Verhandlungen zugelassen werden, die nach einem Trainingszusammenstoß zweier Jugendlicher Schmerzensgeld von Trainer und Verein fordern. Oder er wird hören, dass beispielsweise im Fußballbereich die Vereine Strafen an den Verband zahlen müssen, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Zeit nach Spielabpfiff das Ergebnis in ein Internetportal eingegeben haben.

Alles, was es heute als Ehrenamtlicher zu beachten gilt – von den Anforderungen seitens Finanzbehörden, Jobcentern, Fördermittelgebern ganz zu schweigen – lenkt ab von der eigentlichen Aufgabe: dem Umgang und der „Betreuung“ von Menschen im Miteinander. Das ist das, was jeden Ehrenamtlichen antreibt. Es wird schleunigst Zeit, dass sich Politik, Sportverbände und Verwaltungen Gedanken machen, wie für eine Entbürokratisierung und Entlastung gesorgt werden kann. Kommunale Servicestellen bei den Gemeinden, die bei der Vereinsverwaltung unterstützen? Entlastung bei der Steuer, damit Ehrenamtliche mit ihrem Engagement nicht auch noch Geld „drauflegen“? Modernisierung des Vereinsrechts inklusive des Steuerrechts? Vereinfachung des „Statistikwesens“? Mehr Schutz der Ehrenamtlichen vor rechtlichen Auseinandersetzungen bzw. eine bessere Unterstützung? Ansätze gibt es viele. Mindestsens so viele, wie sie der Kreis Leer auf seiner Ebene mit viel Engagement umsetzt.

Allerdings: Für viele diese Gedanken bedarf es Vorgaben aus der Landes- und Bundesebene. Am 9. Oktober 2022 sind bekanntlich in Niedersachsen Landtagswahlen. Man darf gespannt sein, ob bei allen wirtschafts-, energie- und sozialpolitischen Themen in den Wahlprogrammen  auch neue Wege für die Stärkung des Ehrenamts zu finden sind. Denn sonst wird der Kitt in den nächsten Jahren immer mehr „zerbröseln“ und für die Erneuerung nicht ausreichend Nachschub vorhanden sein.

Holger HartwigDAS SONNTAGSTHEMA: Das Ehrenamt – der Kitt der Gesellschaft, der immer mehr zerbröselt