Wissen behindert – das ist einer der Sätze, die in der Ausbildung zum Systemischen Coach in Erinnerung geblieben sind. Was damit gemeint ist, verdeutlicht folgende Übungssituation.
Stellen Sie sich vor, dass Sie in einem Termin einen Menschen treffen, mit dem Sie noch nie ein Wort gewechselt haben und von dem Sie absolut nichts wissen. Nun ist Ihre Aufgabe, sich diesem Menschen mit einem Abstand von einem Meter Auge in Auge gegenüber zu sitzen und sich zu fragen, was dieser Mensch wohl für ein „Typ“ ist, welche Hobbys er hat und welche Charaktereigenschaften er haben könnte. Wichtig: Sie dürfen kein Wort mit Ihrem Gegenüber wechseln. Ihr Gegenüber bekommt exakt die gleiche Aufgabenstellung.
Nach etwa zehn Minuten der gegenseitigen Betrachtung ist es dann die Aufgabe, dem jeweils anderen zu beschreiben, was wahrgenommen wurde. Sehr schnell werden sich zwei Erkenntnisse ergeben: Das, was in dem Anderen gesehen wird, trifft zumeist nicht zu. Der Mensch, der einem gegenübersitzt, ist anders als erwartet. Im zweiten Teil des Gespräches geht es dann darum zu klären, warum welche Eigenschaften etc. dem unbekannten Gegenüber zugeschrieben wurden. Sehr schnell werden die Beteiligten feststellen, dass die zugeschriebenen Eigenschaften ein Ergebnis der Erfahrungen mit anderen Menschen ist. Beispiel: Der Übungspartner hat eine Brille, wie sie auch der Fritz trägt und der Fritz ist gerne aufbrausend. Das sportliche T-Shirt, das der Mensch gegenüber an diesem Tag anhat, wird dem Frank zugeschrieben, der durchtrainiert bis zum Abwinken ist und schon so manchen Marathon gelaufen ist. Durch diese Vergleiche zu Menschen, die wir kennen, kreiert unser Kopf das Bild vom unbekannten Gegenüber. Man könnte auch sagen, es findet eine „Einordnung“ anhand von Vorurteilen statt.
Anders, als bei dieser Übung, bei der das Einordnen bewusst vorgenommen wird, findet in der realen Lebenssituation dieser Mechanismus unbewusst und sekundenschnell in unserem Kopf statt. Denn wir haben immer ein Ziel: Wir wollen unsere Umgebung – Menschen, Umfeld etc. – möglichst schnell aus unserer Sicht richtig einordnen bzw. „be- oder gar verurteilen“. Wozu diese „Meinungs(ein)bildung“ führt, erleben wir im täglichen Miteinander. Oft müssen wir, wenn wir auf andere Menschen treffen, erst einmal Vorurteile und Einordnungen aus dem Weg räumen. Meistens sogar Aspekte, bei denen wir uns nicht erklären können, „woher der andere wohl auf die Idee kommt, dass ich so denke oder bin“.
So, wie dieser Prozess im Unbewussten im Alltag eine wiederkehrende Herausforderung ist, gilt er auch als „Behinderung“, wenn ein Coach mit einem seiner Schützlinge arbeitet. Nichts ist gefährlicher, als eine Gesprächssituation, einen Sachverhalt oder ein Problem mit einer Konstellation aus einem vorherigen Coaching zu vergleichen. Der Mensch, der einem gegenübersitzt, ist nicht die 1:1-Kopie der bereits bekannten Situation. Nein, jede Situation, jede Konstellation ist anders und bedarf einer neuen, anderen Herangehensweise.
Die Herausforderung im Alltag und im Coaching ist dieselbe. Nicht automatisch einordnen und sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass gemachte Erfahrungen in der jeweiligen Situation oder um Umgang mit dem Gegenüber zwar hilfreich, aber keineswegs zutreffend sein müssen. Erfahrungen können helfen und gleichzeitig auch behindern. Es kommt – wie immer im Leben – darauf an, die richtige Dosis zu wählen, wie Bekanntes und Erwartetes mit dem Neuen und Unbekannten in Relation gesetzt werden, ohne dass vermeintliches Wissen unnötige Hürden aufbaut.
* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.