Wahrheit oder Wirklichkeit?

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Von Holger Hartwig*

Kennen Sie die Situation aus dem Fernsehen? Der Angeklagte vor Gericht sagt: „Ich sage nichts als die Wahrheit!“ Und er hat recht. Ganz unabhängig davon, was er sagt. Warum?

Es gibt die Wahrheit und die Wirklichkeit. Warum hilft es uns, diesen kleinen Unterschied in den vielen Situationen des Lebens, in dem Momenten des Alltags zu kennen?

Als erstes der Blick auf diese verflixte „Warum-Frage“. Sie kommt, wenn

… etwas nicht so läuft oder funktioniert, wie ich/ wir es uns wünschen

… uns jemand ärgert (z.B. Partner, Kinder, Chef).

… uns ein Unglück ereilt (z.B. Unfall).

Die Suche nach der Antwort auf das „Warum“ hat es dann in sich. Sie kostet sehr viel Kraft und Zeit. Häufig ist die Suche sogar vergebens. Oftmals folgt auf die erste Antwort gleich reflexartig das nächste „Warum?“-Thema.

Und was nun? Vor einigen Jahren habe ich einen sehr praktischen Rat bekommen. Vergiss die Warum-Frage. Schaue stattdessen auf die Wirklichkeit – aber bloß nicht auf die Wahrheit.

Dazu zwei Alltagsbeispiele. Ein Mädchen kommt aus der Schule nach Hause. Die Klassenarbeit ist nicht so gut gelaufen. Durch diese Note könnte ein zusätzliches Jahr auf der Schulbank gesichert werden. Natürlich kommt auch hier die Warum-Frage. Das Mädchen gibt Erklärungen, warum es zu der Note gekommen ist. Ich zitiere: „Die Lehrerin ist eh doof, die Fragen waren unfair, die Zeit für die Beantwortung zu knapp und vielleicht hätte ich mich auch etwas besser vorbereiten sollen.“ Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Ich habe Verständnis. So habe ich das damals auch versucht zu erklären. Nur geändert hat es nichts. Die 5 stand da. Unverrückbar. Schwarz auf Weiß.

Zweites (persönliches) Beispiel: Ich liege im Bett im Krankenhaus. Die Operation ist gut verlaufen. Wenn ich auf mein Bein schaue, dann sehe ich das Unheil. An Aufstehen, an Sport und vieles mehr ist lange Zeit nicht zu denken. Der Arzt spricht bei der Visite von einem „mittleren Totalschaden“. Ich könne mich auf einen harten Weg einstellen, bis ich wieder laufen könne. Tolle Aussichten. Immer wieder schießt es mir durch den Kopf: Warum hast Du den einen kleinen Moment nicht aufgepasst? Was wäre gewesen, wenn Du etwas später…? Hätte ich mich bei dem Sturz vielleicht nicht doch…? Alles mögliche geht mir durch den Kopf. Es wäre doch vermeidbar gewesen… Immer wieder die Warum-Frage.

Was haben beide Beispiele gemeinsam? Beide Male wird versucht, sich durch die Beantwortung der Frage eine eigene Wahrheit zu schaffen. Dabei ist es ist völlig egal, wie die Antwort auf die Warum-Frage aussieht. Sie ist immer subjektiv – und ändert nichts an der jeweiligen Situation, an den Fakten.

Es hilft nichts im Leben, die Antwort auf die Warum-Frage zu suchen. Das schafft nur eine eigene Wahrheit, die oft die Realität verwässert. Stattdessen hilft es, sich auf die Wirklichkeit zu konzentrieren. Die Wirklichkeit ist – anders als die Wahrheit – real. Wirklichkeit wirkt. Sie hat Wirkung. Einmal droht diese Wirklichkeit mit der „Ehrenrunde“, das andere Mal sind es neun Metallstücke im Bein sorgen, die dafür, dass es Monate dauern wird, bevor wieder ein normales Laufen möglich ist. Das ist die unverrückbare Wirklichkeit.

Und was kommt dabei heraus, wenn ich auf die „Wirklichkeit“ schaue? Diese zu analysieren ist hart, aber zielführend. Sie bringt Ergebnisse, denn mit der Analyse der Wirklichkeit kommt nahezu im gleichen Atemzug die Erkenntnis, dass ich die Wirklichkeit „in die Hand nehmen“ und selbst gestalten kann. Was kann ich tun, um die Wirklichkeit für mich angenehmer zu machen? Das Mädchen kann anfangen, hart an der Note zu arbeiten. Und das zerlegte Bein wird eben auch nur dann wieder „flott“, wenn alle Konzentration auf das gerichtet ist, was wirkt: Übungen, Physiotherapie etc.

Zurück zum Gerichtssaal: Der Richter sucht eben nicht nach der Wahrheit, sondern versucht die Wirklichkeit zu rekonstruieren. Er kalkuliert ein, dass er viele Wahrheiten einer Geschichte hört. Und wenn er dann ein Urteil gesprochen hat (das schafft neue Wirklichkeiten), dann gilt für den Verurteilten eben nur noch: Das Urteil wirkt, ganz egal, wie seine (gefühlte, geschönte, einseitige) Wahrheit aussieht.

Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.


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