Das Sonntagssthema: Abwarten und Tee trinken hilft nicht

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Wer an einem gewöhnlichen Wochentag durch die Leeraner Fußgängerzone läuft, der sieht: Der Wandel der Einkaufsmeile, die sich gerne als Nummer 1 in Ostfriesland tituliert, ist in vollem Gange. Vom Mühlenplatz bis zu Ledastraße ist weitgehend alles in Ordnung. Makler und Eigentümer müssen sich um ihre Flächen wenig Sorgen machen. Je nach Größe und Vermietungsmodell werden bis zu 35 Euro pro Quadratmeter pro Monat gezahlt. Manchmal wird auch mit in die Immobilie investiert.

Die große Stärke Leers ist die Vielfalt. Die ist allerdings seit Jahren stark rückläufig. Ab der Ledastraße – dem Bereich, der gerade modernisiert wurde – nehmen die Leerstände zu. Anschlussvermietungen werden mit jedem Meter Richtung Altstadt und Rathaus herausfordernder. Sinkende Mieten inklusive. Über 20 Euro – früher möglich, heute oft Wunschdenken.

Ist diese Entwicklung „hausgemacht“? Jein. Nein, weil Corona und der boomende Online-Handel dem klassischen Handel zusetzen. Aktuelle Studien besagen: Der Einzelhandel als Lokomotive einer Innenstadt funktioniert auf Dauer nicht mehr, Innenstädte in der bisherigen Form werden langsam sterben. Und ja, sie ist hausgemacht, weil es kein ganzheitliches Konzept für die Entwicklung gibt. Pflastersteine und Mobiliar zu erneuern, ist schön, aber wird nicht einen Besucher mehr in die City locken.

Dabei hat Leer Ansätze, die Fachleuten als zukunftsweisend gesehen werden. „Mixed Use“ wird das in der Fachsprache genannt. Ein Rückbau der Verkaufsfläche wird zur stärkeren Integration von Gastronomie, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie Wohnungen genutzt. Innenstadt nach wohnen? Da ist Leer durch die Neubauten auf der Nesse, mit der Harms-Villa und bald auch mit der Hafenkopf-Immobilie bestens aufgestellt. Das sorgt für Belebung. Aber was ist mit den übrigen Strukturen?

Es gibt im Innenstadt-Kern seit vielen Jahren keinen einzigen Nahversorger. Die bisherigen Anläufe – z.B. Markthalle in den 1990er Jahren – scheiterten krachend. Es war eine andere Zeit. Heute sagen auch hier die Studien: Die Menschen sind bei Lebensmitteln bereit, mehr zu zahlen, wenn sie auf das Auto verzichten können. Nahversorger mit modernem Konzept mit frischen, besseren und teureren Produkten und Erlebnis beim Einkauf erleben phänomenales Wachstum. Auch wird angeraten, Verwaltungen, Bildungsangebote und allgemeine Serviceeinrichtungen stärker mit in den Mix der Innenstädte einzubeziehen. Und was ist in Leer in den vergangenen Jahren passiert? Spötter sagen: Das Einzige, was für die Stadt durchdacht angegangen wurde, ist das „Fahrradfahrer-haben-Vorfahrt-Konzept“ mit Verkehrsberuhigung für den Autoverkehr. Dumm nur, dass ein sehr großer Teil der Kunden in Leer aus dem Umland kommt – mit dem Auto. Das ist eher geschäftsschädigend, statt -fördernd.

Leer braucht dringend ein neues Leitbild für die Innenstadt. Gerade auch mit Blick auf die Investitionen auf dem Gelände OLB oder der Post, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das bald startende Landesförderprogramm „Initiative Innenstadt“ ist schön, aber keine Lösung. a

Es ist Zeit, größer zu denken, bevor sich uch Zugpferde wie H&M oder C&A (so, wie in vielen anderen Orten) mangels Renditeperspektiven zurückziehen. Es ist Zeit, dass Handel, Eigentümer, Verwaltung, Politik, aber auch die Banken der Stadt an einen Tisch kommen und klären, wer und wie und auch durch wen finanziert eine „Perspektive Leer 2030“ für die Einkaufstadt auf den Weg gebracht werden.

Die zentrale Frage ist: Wer nimmt das jetzt in die Hand und bringt alle zusammen? Der neue Bürgermeister? Der Chef der Werbegemeinschaft? Der größte Immobilieneigentümer? Ein einzelner Makler? Viele könnten sich berufen fühlen. Geredet wird viel, alle tun sich schwer, nach vorne zu preschen. Am besten wäre es, wenn sich die beiden größten ortsansässigen Banken, Sparkasse und Volksbank wieder – wie zu früheren Zeiten – stärker einbringen. Sie haben originär ein Interesse, dass „der Laden läuft“. Sie könnten gemeinsam zu einem „Runden Tisch“ einladen. Und dann braucht es natürlich Geld. Geld für einen Macher, der Weichen stellt, der Aktivitäten entwickelt, der mit Elan vorwärts geht. Geld, das künftig auch – aber keinesfalls nur, da alle von einer funktionierenden Innenstadt profitieren – von den Eigentümern und nicht nur aus dem Handel oder der öffentlichen Hand kommen muss. Denn es sind vor allem die Eigentümer, die von mehr Leben und Aktivitäten profitieren und dann auch die nächsten Jahre noch gute Mieten kommen. Das oft praktizierte (ostfriesische) Motto „Abwarten und Tee trinken“ hilft jedenfalls nicht weiter.

Holger HartwigDas Sonntagssthema: Abwarten und Tee trinken hilft nicht