Es ist ein Freitag im September 2006. Ich habe einen Tag frei und meine Eltern ziehen um. Während ich einen Kleiderschrank zusammenschraube, klingelt das Telefon. Meine Sekretärin– ich bin damals Redaktionsleiter Emsland der Neuen Osnabrücker Zeitung – ruft an. „Holger, beim Transrapid hat es einen schweren Unfall gegeben. Das, was wir wissen, hört sich nicht gut an. Es hat wohl Tote gegeben.“ Kurze Pause. „Alles klar. Ich bin in einer guten halben Stunde in der Redaktion.“ Mir ist bewusst, dass das für die Redaktion ein „Großkampftag“, so wie sonst nur an Wahlabenden, wird. Auf dem Weg in die Redaktion die ersten Überlegungen: Wie organisieren wir die Berichterstattung? An was müssen wir denken? Wer kann noch mithelfen?
Vor Ort ein kurzes Lageupdate mit der Mannschaft. Zwei Redaktionsmitglieder sind mittlerweile in Lathen. Sie berichten, dass dort Ausnahmezustand herrscht. Es ist klar: Es hat viele Tote gegeben. Am Ende werden an diesem Tag 23 Menschen ihr Leben verloren haben. Wir müssen schnell entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Ein Kollege übernimmt die „normale“ Zeitung an diesem Tag im Alleingang. Ich denke: Das, was darin neben dem Unglück stehen wird, dürfte morgen sowieso niemanden wirklich interessieren. Heute wird sich zeigen, ob die Redaktion als Team funktioniert, jeder weiß, was er machen muss.
Die nächsten Stunden bis Mittenacht sind mehr als hektisch. Adrenalin pur. Infos von den Kollegen vor Ort, Absprachen mit der Chefredaktion in Osnabrück. Telefonieren, telefonieren, telefonieren, Kontakt zu den Kollegen, zur Feuerwehr, zur Polizei, zum Landkreis usw. Natürlich wollen wir mehr wissen als andere, unsere Verbindungen nutzen. Wie konnte das passieren? Wer saß in dem Unglückszug? Menschen aus der Region?
Ich habe an diesem Tag bis 22 Uhr fast immer das Telefon am Ohr. Erst dann geht es darum, alle Infos für den Aufmachertext zusammenzufassen. Schnell macht das Gerücht die Runde, dass eine Gruppe eines Pflegdienstes aus Papenburg im Zug gesessen hat. Ich weiß, dass natürlich dazu niemand zum jetzigen Zeitpunkt etwas sagen wird. Aber wie mit der Information umgehen? Es gibt nur einen Weg: Ins Auto setzen und zu dem Pflegedienst fahren und dort an der Tür klingeln. Eine Frau öffnet – und im Prinzip muss ich nichts mehr fragen. Das, was passiert ist, ist in ihrem Gesicht abzulesen. Ich stelle mich kurz vor, beschreibe, was ich gehört habe und sage ihr, warum ich vor der Tür stehe und was ich wissen möchte. Sie schaut mich an und sagt nur: „Ich kann nichts sagen.“ Und wir beide wissen in diesem Moment, dass sie damit alles gesagt hat. Auch eine weitere Information, wer im Unglückszug saß, wird bestätigt. Über die Zentrale in Osnabrück gehen diese und weitere Infos per Nachrichtenagenturen in die Welt hinaus. Die Kollegen, die vor Ort sind, sammeln auch Infos ein. Sie sehen grausame Bilder, die sie ihr gesamtes Leben nicht vergessen werden. Wrack- und Trümmerteile sind bis zu 300 Meter weit durch de Luft geschleudert worden. So berichten sie, dass sie, als sie das erste Mal in die Nähe der Unfallstelle dürfen, verstreut blaue Müllsäcke liegen sehen. Was darin ist – da kommen einem als jemand, der schon viel gesehen hat, trotzdem schnell die Tränen… Wie gesagt: Wir funktionieren. Es ist der Job. Auch an solchen Tagen.
Über die Stunden hinweg wird das Ausmaß immer deutlicher. Und es zeigt sich, dass meine Redaktionsmannschaft inklusive auch aller freien Mitarbeiter ein Team ist, wie es sich ein Chef nur wünschen kann. Bevor es dann kurz vor 23 Uhr die Freigabe des Textes auf der Titelseite gibt (wir machen mit der kleinen Mannschaft heute vier Seiten zu dem Thema), rufe ich alle Kolleginnen und Kollegen zu mir ins Büro. Alle stehen um meinen Schreibtisch herum und ich bitte sie, genau zuzuhören, was aus den vielen Informationen in der Zusammenfassung auf dem Titel landet. Wir gehen Satz für Satz durch. Wenn eine Anmerkung kommt, wird gemeinsam entschieden, wie wir das lösen. Auch die Überschrift entwickeln wir zusammen. Bei allem, was dieser Tag an grausamen Momenten mit sich bringt, sind diese 15 Minuten in 30 Jahren Journalismus einmalig. Erst als alle keine Anmerkungen mehr haben, geht der Beitrag in den Druck.
Der Tag ist damit noch nicht zu Ende. Wir wissen, dass das Wochenende und die Zeit danach uns viel abverlangen werden. Wer fährt morgen ganz früh zur Unfallstelle? Wie wollen wir weiter berichten? Worauf kommt es uns an? In einem Punkt sind sich alle einig: Wir wollen alles tun, um weiter seriös und mit Einfühlungsvermögen zu berichten. Wir wissen, was dieses Unglück mit unseren Lesern, Nachbarn, Familien macht. Und wir wissen an diesem Abend, dass die Kollegen aus dem TV und aus dem Boulevard teilweise anders arbeiten werden. Wissen Sie, welches Zitat einer Kollegin ich nie vergessen werde? Sie berichtete: „Ihr könnt Euch das nicht vorstellen: Da läuft ein Fotograf herum und ,beschwert‘ sich, dass die Überreste der Menschen, die das Unglück nicht überlebt haben, nicht in Särgen in das Kühlhaus gebracht werden. Das seien so keine schönen Motive.“ Nee, auch wenn jeder weiß, wie manche Menschen ticken, dass mag man sich so nicht vorstellen.
An Tag 2 fahre ich morgens nach Lathen. Viel Politprominenz wird erwartet, während die Aufräumarbeiten weiter gehen. Wir werden natürlich weiter berichten (müssen) und dabei den Fokus auf die Menschen legen, die als Feuerwehr, THW, DRK, Seelsorger etc. dieses Unglücks. Wir haben mit diesen Menschen gemeinsam: In so einem Moment den Job machen – einfach funktionieren. Die meiste Zeit gelingt es gut. Als es dann an die Unfallstelle geht, verliere ich die Fassung und brauche viel Zeit in einem benachbarten Maisfeld. Für mich allein. Ich bin selbst Vater und an der Unfallstelle finde ich Rosen mit einem Zettel als Herz auf dem steht: „Lieber Papa, wir vermissen Dich ganz doll. Mama und ich und die Katzen. Hoffentlich hast Du es bei Gott gut!“ Deine…“ Jede(r) Kollege (in) hat in diesen Tagen so einen Moment, wie wir später in vielen Gespräche miteinander – das ist die beste Möglichkeit, das zu verarbeiten – feststellen.
Die Wochen danach werden zu einer Herausforderung. Natürlich sind Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet vor Ort und recherchieren. Der Boulevard lechzt nach privaten Geschichten. Wie geht es der Familie, die ihren Vater verloren hat? Was macht der Sportverein ohne seinen Jugendobmann? Und dann kommen diese Kollegen in die Redaktion und wollen wissen, ob wir Fotos von den Verstorbenen haben und zur Verfügung stellen. Oder sie rufen an und wollen wissen, ob wir dieses oder jenes bestätigen können. Mein Team und ich haben in solchen Situationen eine klare Haltung. Wir wissen nichts, wir haben kein Material und wir sind einfach zu doof… Nur so können wir einen kleinen Teil beitragen, dass neben dem Unglück nicht noch weitere Unheil entsteht. Der Druck wird aber von Tag zu Tag größer und irgendwann bekomme auch ich als Redaktionschef einen Anruf mit der Frage: Können Sio nicht mal aus dem Kindergarten, Sportverein oder der Schule berichten? Mal zum Bäcker gehen und Stimmungen einfangen? Ich werde in diesem Moment sehr laut. NEIN, DAS kann, will und werde ich NICHT. Und auch keiner meiner Mitarbeiter. Solange ich die Verantwortung habe, wird das niemand aus meinem Team machen. Ich lege den Hörer auf – und habe von dem Thema dann nichts mehr gehört.
Wir konzentrieren uns auf die Recherche, wieso es zu dem Unglück kommen konnte. Das, was dabei zutage kommt, ist bis heute unbegreiflich. Am taurigsten dabei das Ergebnis des „Wühlens“ nach der Wahrheit: Während das Transrapid-Projekt Milliarden verschlungen hat, war die Sicherheitstechnik überaltert und wurde trotz der eindeutigen Forderungen von Mitarbeitern und Betriebsratsvertretern nicht modernisiert. Vielleicht wäre das Unglück zu verhindern gewesen, wenn…
Seit mittlerweile 15 Jahren kommen diese Erinnerungen immer wieder im September hoch. Und der Brief an den Vater vor Augen, kullern auch heute noch die Tränen. Denn bei allem Funktionieren imJob: (Lokal)Redakteure sind am Ende ganz normale Menschen. Und ich bin sehr dankbar, das ich damals ein Team mit Menschen um mich hatte, die es geschafft haben, professionell ihre Arbeit zu machen, aber nie vergessen, dass das Leben mehr ist als eine gute Schlagzeile und ein spektakuläres Foto.